Sonntag, 10. Mai 2015

Ausbildung in der Behindertenhilfe - Einübung ins Prekäre?

Auf den sonntäglichen Medienrückblick auf die vergangene Woche verzichten wir diesmal: die Hunderte Artikel zur SuE-Tarifauseinandersetzung und die zig Artikel zur Neufassung der Grundordnung listen wir nicht auf; zu SuE-Thematik empfehlen wir die Lektüre von Stefan Sells Blogbeitrag "Erzieherinnen als 'Müllmänner 2.0'?", der eine Reihe von interessanten analytischen Fragen zur aktuellen Aufwertungskampagne SuE thematisiert und einige notwendige Überlegungen vertieft.

Einen kleinen Rückblick gestatten wir uns aber doch: am 25. April 2015 war auf einer Sonderseite 6 der Süddeutschen Zeitung ein kleiner, das Thema Mindestlohn illustrierender Artikel ("Heimleiter...kann keine Praktika mehr anbieten") zu lesen, auf dem der Heimleiter einer heilpädagogischen Einrichtung in Bayern die Probleme schildert, die sich für ihn mit der Einführung des Mindestlohns verbinden. Der Heimleiter bleibt anonym, auch der Trägerhintergrund wird nicht erwähnt. Die Verhältnisse sind uns aber sowohl aus weltlichen, wie auch diakonischen und caritativen Einrichtungen vertraut - sie waren und sind überall zu finden.


Der Heimleiter beklagt sich, dass für die Fachausbildung zum Heilerziehungspfleger erforderliche zweijährige berufliche Vorerfahrung "weil das Praktikum nicht von einer Schule betreut wird...seit Januar mindestlohnpflichtig" ist.
"Für uns wurden Praktikanten plötzlich viel teurer. Bisher gab es pro Monat 325 Euro, mit Mindestlohn währen es 1000 Euro mehr. Das können wir uns nicht leisten, zumal sie ja keine volle Arbeitskraft sind, weil sie noch lernen. Wir mussten unseren Praktikanten ab Januar einen anderen Vertrag geben, um sie überhaupt weiterbeschäftigen zu können. Bei uns laufen sie jetzt als Pflegehelfer, das ist die unterste Tarifgruppe."
Der dem die Verhältnisse in den Einrichtungen der Behindertenhilfe vertraut sind, weiss das einzuordnen: in Einrichtungen der Behindertenhilfe wird seit langen Jahren die erforderliche "mindestens zweijährige Berufserfahrung" von sogenannten "Praktikanten" abgeleistet, denen suggeriert wird, ein Praktikum sei für den Besuch der Heilerziehungspflegeschule erforderlich. Noch vor 20 Jahren war es dagegen Standard, dass diejenigen, die ihre "zweijährige Berufserfahrung" nicht über den Zivildienst oder vergleichbare Gelegenheiten erworben haben, zunächst als ordentlich bezahlte Helfer in Einrichtungen der Behindertenhilfe beschäftigt wurden und so die erforderlichen Voraussetzungen erworben haben. Das Praktikantenunwesen hat erst in den 90er Jahren Einzug in die Einrichtungen der Behindertenhilfe und in die Ausbildungssystem erhalten: systematisch wurden mehr und mehr Praktikantenverhältnisse in den Einrichtungen der Behindertenhilfe angeboten, bei denen ohne schulische Betreuung eine auf zwei Jahre ausgedehnte Einlernzeit praktiziert wurde, die aufgrund des Praktikantentitels eine willkürlich festgelegte Vergütung erlaubt hat. Man wusste dabei in der Regel das Arbeitsverhältnis so zu gestalten, dass beim Verantwortungsumfang der Tätigkeit kleine oder größere formale Abstriche (z.B. kein Einzeldienst) gemacht wurden und dass - in günstigeren Fällen - eine frei definierte Praktikumsbegleitung stattfand. Ansonsten waren die Praktikanten in Betreuungsteams weitgehend wie normale Beschäftigte einsetzbar.
Die Vergütungen für vollzeitbeschäftigte Praktikanten bewegten sich - einrichtungsspezifisch - zwischen 300 und 700 Euro. Mit diesen niedrigen Vergütungen, die bei einem Drittel bis einem Siebtel von dem lagen, was für normale Helfer an Kosten angefallen wären, konnten die Einrichtungen ihre Dienstpläne realisieren.
Einrichtungen und Kostenträger haben sich an die Verhältnisse gewöhnt. Und die Praktikanten haben sich an die Verhältnisse gewöhnen müssen und müssen sich so vor und in der Ausbildung (denn auch die Vergütung während der Heilerziehungspflegeausbildung ist nicht geregelt) an die prekären Verhältnisse gewöhnen, mit denen sie möglicherweise auch nach der Ausbildung konfrontiert sein werden: erleben sie es dann doch häufig, dass ihnen nur befristete und Teilzeit-Beschäftigungen mit geteilten Diensten angeboten werden. Und auch im günstigen Fall einer Vollzeitbeschäftigung ist die Tätigkeit im Schichtdienst kein Zuckerschlecken: zwischen dem Normaldienst und dem, was als Notdienst bei Arbeitskämpfen zu vereinbaren wäre, besteht in zahlreichen Heimeinrichtungen der Behindertenhilfe keinerlei Unterschied...

Die Unterfinanzierung der Behindertenhilfe führt nun dazu, dass der Mindestlohn eine mehr oder weniger starke Stellenreduzierung in den Einrichtungen zur Folge hat. Die oben zitierte Klage des Leiters der heilpädagogischen Einrichtung setzt sich wie folgt fort:
"Auch so können wir sie nur noch in Teilzeit beschäftigen, müssen also auf eine halbe Stelle verzichten. Das ist aber immer noch besser, als gar keine Praktikanten mehr zu haben. Praktikanten sind die Basis für die Zukunft unseres Berufs, ohne das Vorpraktikum können sie keine Fachkräfte werden. Die brauchen wir aber in unserer Branche so dringend. Wenn wir ihnen die Möglichkeit eines Vorpraktikums verbauen, schneiden wir uns ins eigene Fleisch."
Vielleicht sollte man mal das ganze System überdenken, das auf ein derartig prekäres Ausbildungssystem aufbaut? Braucht die Branche wirklich Fachkräfte, die sich in ihrem "Vorpraktikum" eine unwürdige Vergütung gefallen lassen?

Und: warum für die den Besuch der Heilerziehungspflegeschule eine zweijähriges berufliche Tätigkeit einer halben Stelle (und viel Freizeit) erforderlich ist und keine einjährige berufliche Tätigkeit auf einer vollen Stelle genügt, bleibt wohl das Geheimnis des bayerischen Bildungssystems.

Und die ganze Problematik macht auch deutlich, wie wichtig die aktuelle Tarifauseinandersetzung SuE auch für den Bereich der Behindertenhilfe ist. Die prekäre Situation der Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnisse in der Behindertenhilfe wird auch durch die zwischen zweiten und dritten Wegen gespaltene Mitarbeiterschaft in diesem Tätigkeitsbereich befördert! Deswegen müssen wir auch im Bereich von Caritas und Diakonie die Aufwertungskampagne unterstützen, weil die Solidarität, die wir gewähren, diesselbe ist wie die, die wir erwarten und brauchen...


Kleine Anmerkung noch:
Am Tag vor jenem Artikel in der Süddeutschen Zeitung war in der FAZ ein kleiner Artikel zu lesen: "Caritas fordert Korrektur des Mindestlohns". In dem FAZ-Artikel war von der Behindertenhilfe und Praktikumsverhältnissen zwar nicht die Rede, in der Pressemitteilung der Dienstgeberseite der AK wohl aber schon:

Neben den Bereitschaftsdiensten drückt den Caritas-Dienstgebern auch der Schuh bei den bisherigen Regelungen im MiLoG zur Vergütung von Praktikanten, Hospitanten und Ehrenamt sowie bei Arbeitszeitkonten. „Hier sind dringend Korrekturen geboten, um Schaden von den sozialen Diensten abzuwenden“ fordert Lioba Ziegele.

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