Dienstag, 15. März 2022

Gibt es ein Grundrecht auf Vergessen?

Im Zusammenhang mit diversen kirchlichen Skandalen wird immer wieder gefragt, ob es denn nicht endlich geboten sei, die "alten Kammellen", die strafrechtlich längst nicht mehr von Belang seien, ruhen zu lassen und immer wieder "aufzuwärmen". Wäre es nicht endlich geboten, "Gras über die Sache wachsen zu lassen" anstatt auf längst vergessenen Fehlern von "vor Jahrzehnten herum zu kauen"? *)
Nun - auch wir nehmen für unseren Blog das "Grundrecht der Freiheit der Berichterstattung" heraus und verweisen in der Diskussion bisweilen auch auf ältere Sachverhalte.

In einem interessanten Urteil hat das OLG Wien nun die Entscheidung 6490/07 des EGMR »Rothe gegen Österreich« zu Art. 8, 10 EMRK wieder in das Bewusstsein gerückt.
»Der EGMR hat in der Entscheidung […] festgehalten, dass Berichte, die auf die Morallehre einer einflussreichen religiösen Gemeinschaft Bezug nehmen und der Frage nachgehen, ob kirchliche Würdenträger nach den von der Kirche vorgegebenen Moralvorstellungen leben, einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leisten«
so das OLG Wien im aktuellen Fall. Die Abwägung zwischen dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Achtung des Privatlebens sei bei Personen, die als Würdenträger in der Öffentlichkeit stehen, zugunsten der freien Meinungsäusserung vorzunehmen:
»Denn der Antragsteller steht als – wenngleich seit 2018 pensionierter – Bischof als kirchlicher Würdenträger nach wie vor in der Öffentlichkeit. Er nahm auch in jüngerer Vergangenheit […] Stellung zu Fragen der Kirche, insbesondere zu deren Familienbild, zu Liebe und Sexualität[…]. Da die inkriminierte Veröffentlichung sich just mit dem Handeln der kirchlichen Organe und deren Dogmen im Zusammenhang mit der Sexualmoral und dem Thema des sexuellen Missbrauchs bzw des oftmals mit diesen Verhaltensweisen einhergehenden Missbrauchs von Macht- und Autoritätsverhältnissen befasst, ist die ohnehin nur am Rande und vor allem im Zusammenhang mit einem angezeigten Sexualverbrechen erwähnte Information, dass der Antragsteller selbst homosexuelle Neigungen haben soll, ebenso wie die Darstellung seiner Reaktion auf die diesbezüglich medial erhobenen Zuschreibungen, was zur zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit seiner nach außen hin vertretenen Positionen in Fragen der sexuellen Morallehre relevant ist, im Rahmen der vom Autor angestrebten Debatte von öffentlichem Interesse.«

Warum wir darauf gerade heute hinweisen?
Am 14./15. März 1525 wurden in Memmingen die "Erste Menschenrechtserklärung Europas" veröffentlicht, die sogenannten "Zwölf Bauernartikel". Bereits die erste Forderung "hat es in sich". Sie wäre immer noch eine Steilvorlage für den "Synodalen Weg".

*)
Vgl. auch "Christ in der Gegenwart" Nr. 7/2022 S. 3 [9]

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen




Ihr könnt Eure Kommentare vollständig anonym abgeben. Wählt dazu bei "Kommentar schreiben als..." die Option "anonym". Wenn Ihr unter einem Pseudonym schreiben wollt, wählt die Option "Name/URL". Die Eingabe einer URL (Internet-Adresse) ist dabei nicht nötig.

Wir freuen uns, wenn Ihr statt "Anonym" die Möglichkeit des Kommentierens unter Pseudonym wählt. Das Kommentieren und Diskutieren unter Pseudonym erleichtert das Austauschen der Argumente unter den einzelnen Benutzern.