"Warum fehlt es der katholischen Soziallehre trotz ihres überzeugenden Wahrheitsgehalts an Glaubwürdigkeit? Die Welt fragt, ob die Taten den Worten entsprechen. Und da liegt - Gott sei es geklagt - die entscheidende Schwäche der katholischen Soziallehre; allzuweit bleiben die Taten hinter den Worten zurück, nicht selten widersprechen sie ihnen gerade zu. Nicht nur in breitesten Kreisen des Kirchenvolkes, sondern gerade auch im Klerus und in den religiösen Orden und Kongregationen herrscht vielfach ein erschreckender Mangel an sozialem Verantwortungsbewußtsein, und es wird gar nicht selten ein Beispiel sozialen oder richtiger gesagt asozialen Verhaltens gegeben, das unsere Soziallehre zu heuchlerischem Geschwätz abwertet.
Nur ein Beispiel. Unsere Soziallehre lobt und empfiehlt die Gewerkschaften. Aber wehe den jungen Mädchen, die als Angestellte klösterlicher Anstalten sich einfallen lie ßen, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder auch nur sich bei der Gewerkschaft nach den ihnen zustehenden Rechten zu erkundigen, geschweige denn sich auf die Gewerkschaft zu stützen, um sie durchzu setzen! Daß in dieser Hinsicht nicht nur mütterliche Oberinnen, sondern auch väterliche Ordinariatsräte gegenüber männlichen Laienkräften im kirchlichen Dienst fehlen, dafür brachte die Gewerkschaftspresse gerade vor einigen Tagen ein instruktives Beispiel.* Die Kritik ist im denkbar vornehmsten Ton gehalten; um so ernster sollte man sie nehmen. Als vor zwanzig Jahren das jüngst novellierte Betriebsverfassungsgesetz zur Verabschiedung anstand, hat die Kirche - oder haben die Kirchen - sich für die Freistellung der sogenannten Tendenzbetriebe eingesetzt und erklärt, in ihren Betrieben würden sie der Personalvertretung noch weitergehende Rechte einräumen; um die dreißigjährige Verjährungsfrist zu unterbrechen, bringe ich dieses Versprechenhier in Erinnerung!
*Welt der Arbeit, Nr. 9, vom 3. März 1972, Seite 3"
Quelle:
Oswald von Nell-Breuning, Wie sozial ist die Kirche, Düsseldorf 1972, S. 92
Zugegebenen ein alter Text. Wieweit er veraltet ist, mag jeder selber sehen.
Ist doch logisch: wer in der Lehre das "hohe Lied der Gewerkschaften" verkündet, in der Praxis aber alles mögliche tut, um selbst mit Gewerkschaft im eigenen Betrieb nichts zu tun zu haben, ist durch und durch unglaubwürdig. Und das nicht nur bei diesem Thema.
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