Aus dem dort zugestandenen Recht zur Selbstordnung und Selbstverwaltung der eigenen Angelegenheiten wird - sehr verkürzend und juristisch wohl unzutreffend - das sogenannte "Selbstbestimmungsrecht" der Kirchen und Religionsgemeinschaften abgeleitet.
Seit gut 100 Jahren resultiert das Staatskirchenrecht also auf den gleichen Regelungen. Wir haben darauf schon in dem Beitrag
Kirchenartikel im Grundgesetz - 100 Jahre Weimarer Verfassunghingewiesen.
Aktuell stellt sich vor der europäischen und höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Loyalitätsverpflichtungen *) die Frage, was denn diese Kirchenartikel konkret beinhalten. Der Sozialethiker Prof. Dr. Kreß (Universität Bonn) meint im Kirchen.info Nr. 33, S. 32 (März 2019)
1. Europäisches Recht besitzt Vorrang.und kommt zur Prognose:
2. Die Kirchen sind nicht mehr befugt, sich unkontrolliert über die allgemein geltenden weltlichen Rechtsnormen hinweg zu setzen
"Legt man die normativen Leitideen der Urteile zugrunde, werden sich unter anderem das Nein der Kirche zum Streikrecht oder ihre Blockade von Tarifverhandlungen nicht mehr halten lassen."Etwas vorsichtiger schreibt katholisch.de:
Ist das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in Gefahr?Im Artikel wird Diakonie-Präsident Ulrich Lilie zitiert, wonach das im Grundgesetz verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen unzulässig verletzt sei. Katholisch.de stellt dann die Vermutung auf:
…
Karlsruhe könnte nun darüber nachdenken, die Autonomie der Kirchen als Teil der deutschen Verfassungsidentität zu interpretieren.
Verfassungsrecht - statisch oder dynamisch?
Die Frage mag überraschen. Ist es nicht so, dass ein ausformuliertes Gesetzeswerk wie gerade auch ein Grundgesetz, eine Verfassung gilt? Und was soll sich am Inhalt einer Norm ändern, wenn sich die Norm selbst nicht ändert?
Tatsächlich unterliegt jede Rechtsnorm der Interpretation. Und in 70 Jahren - wenn man die Geltung der WRV dazu nimmt, sogar in 100 Jahren - können sich Interpretationen ändern. Das Staatskirchenrecht ist ein Beispiel dafür.
A) Historische Entwicklung des Verfassungsrechts:
I) Beispiel Bayern:
Lassen Sie uns doch einmal gute zweihundert Jahre zurück gehen. Seinerzeit gab es ein völlig anderes Verständnis von "Kirche und Staat" als heute. Das beredete Beispiel für dieses Verständnis ist die "Säkularisation". Das Vermögen der Kirche, der Bistümer, der Klöster und Stifte hat sich der Staat angeeignet - aus staatlicher Sicht völlig legal, denn dieses Vermögen etwa der seinerzeitigen Fürstbischöfe und Klöster, die ja auch weltliche Herrscher waren, wurde als "staatlich" verstanden. Die Kirchenfürsten, die reichsunmittelbaren Fürsten und Klöster waren nichts anderes als "verlängerter Arm des Staates", dem Staat oder besser seinem Regenten zur Gefolgschaft verpflichtet. Cuius regio, eius religio, auch cuius regio, illius religio (lateinisch für wessen Gebiet, dessen Religion, im damaligen Sprachgebrauch oft wes der Fürst, des der Glaub’) war seit dem Augsburger Religionsfrieden im 16ten Jahrhundert die Rechtsregel für das Verhältnis von Fürst und Kirche. Ersterer bestimmte sogar, welcher Konfession seine Untertanen angehören sollten.
Dementsprechend war noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts der weltliche Herrscher auch der Schutzpatron der Kirche in seinem Staatsgebiet - und diese dem Regenten zur politischen Treue verpflichtet. Noch im § 57 des bayerischen Religionsedikts von 1818 wurde geregelt:
"Da die hoheitliche Oberaufsicht über alle innerhalb der Grenzen des Staates vorfallenden Handlungen, Ereignisse und Verhältnisse sich erstreckt, so ist die Staatsgewalt berechtigt, von demjenigen, was in den Versammlungen der Kirchengesellschaften gelehrt und verhandelt wird, Kenntnis einzuziehen."Und § 58 des Edikts legte fest, dass u.a. keine kirchlichen Gesetze ohne königliche Genehmigung veröffentlicht und vollzogen werden durften:
"Hiernach dürfen keine Gesetze, Verordnungen oder sonstige Anordnungen der Kirchengewalt nach den hierüber in den königlichen Landen schon längst bestehenden Generalmandaten ohne Allerhöchste Einsicht und Genehmigung publiziert und vollzogen werden. …"Noch im bayerischen Gemeindeedikt vom 24. September 1808 (Reg.-Bl. 1808, S. 2405 ff) war etwa die politische Gemeinde auch für die Verwaltung des örtlichen Kirchenvermögens zuständig. Erst mit dem revidierten Gemeindeedikt vom 1. Juli 1834 begann – zaghaft – die Trennung auf örtlicher Ebene.
Der Staat hat aber weiterhin z.B. die Bildung von Pfarreien, Besetzung von Seelsorgestellen usw. als staatlichen Hoheitsakt gesehen und sich auch sonst sehr aktiv um religiöse Angelegenheiten "gekümmert". So hat "seine Majestät, der König von Bayern" noch mit Dekret vom 23. März 1847 "über die Ablegung der Nonnengelübde" (nachlesbar im Schreiben des Staatministerium des Innern Nr. 13200, u.a. im Akt des Staatsarchives München, LRA 38601) festgesetzt, dass zeitliche (und ewige) Gelübde von Nonnen und Novizinnen nur unter Mitwirkung weltlicher Kommissare stattfinden dürften, welches Alter vorgeschrieben war usw. usw. Die Besetzung der Pfarrerstellen war teilweise "dem König" zugestanden, der dann auch - wie bei den früheren Schlosskapellen des Adels - für die Versorgung und Unterkunft der Kleriker zu sorgen hatte. Eine logische Konsequenz aus der Säkularisation übrigens, denn damit wurde auch und gerade das Wirtschaftsvermögen der Kirchen unter staatliche Obhut gestellt, freilich dann auch mit der Verpflichtung, die auf dem Vermögen lastenden Verpflichtungen (z.B. Baupflichten oder Baulasten, die Pflicht zur Unterkunft für den Ortsseelsorger usw.) weiter zu erfüllen. Es handelt sich um eine "Gesamtrechtsnachfolge", wie schon das Reichsgericht rechtsverbindlich entschieden hat. Der Staat - der im Übrigen immer noch über die Vermögenserträge etwa der säkularisierten Bergwälder in Oberbayern verfügt - muss diese Erträgen heute noch (zuvorderst, wie im Reichsdeputationshauptausschuss formuliert wird) für diese Zwecke verwenden, und darf erst "überschüssige Mittel" für eigene Zwecke nutzen. So, wie das damals schon bei den Klöstern und Klosterpfarreien der Fall war. Und erst mit § 18 Abs. 3 der Bayerischen Verfassung von 1919 i.V. mit Artikel 2 (für die Orden) bzw. Artikel 10 §§ 2 ff im Bayerischen Konkordat von 1924 ist auf Landesebene (später dann auch im Reichskonkordat) das kirchliche Eigentum und das Recht auf eigenständige Vermögensverwaltung „unabhängig von staatlicher Aufsicht“ garantiert worden – wobei die eigene kirchliche Stiftungsverwaltung sogar erst aufgrund der Neufassung des Bayerischen Stiftungsgesetzes zum 1. Januar 1955 richtig wirksam wurde.
Im Konkordat ist dann auch das Recht der Kirche geregelt, selbst eigene Seelsorgestellen zu bilden "soweit dazu keine staatlichen Mittel benötigt" würden.
II) Beispiel Preußen:
Auch bei unseren preußischen Nachbarn war das Staatsverständnis gegenüber den Kirchen so ausgeprägt wie in Bayern. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Während dem katholische Altbayern als Ergebnis des Wiener Kongresses 1814/15 mit den fränkischen Gebieten plötzlich eine nichtkatholische Minderheit im Staatsgebiet gegenüber trat, die für sich gleiche Rechte wie die Katholiken beanspruchte, musste Preußen aufgrund der Okkupation polnischer Gebiete in den Jahren 1772, 1793 und 1795 mit einer katholischen Minderheit zurecht kommen. Und diese Katholiken waren für die preußischen Herrscher alles andere als "leichte Untertanen". Ganz im Gegenteil: im "Abwehrkampf" gegen die protestantischen Preußen und Schweden sowie gegen die orthodoxen Russen war die "eigene polnische Identität" nur über die katholische Kirche erlebbar.
Und was für die preußisch-protestantische Landeskirche selbstverständlich war, was die katholische Kirche einem katholischen Herrscher noch zugestand - die Besetzung der Seelsorgestellen durch den staatlichen Regenten - das war nun für die katholische Kirche unannehmbar. Wie um alles in der Welt konnte man dem protestantischen (!) Preußenkönig zugestehen, über die Besetzung der Priesterämter der katholischen Ortskirche zu bestimmen? Bestand da nicht die Gefahr, dass die Kirchengemeinden zunehmend "reformiert" wurden? Das Ergebnis war der "preußische Kulturkampf" unter Bismarck, der ab 1871 eskalierte und ab 1878 schrittweise beendet und 1887 diplomatisch beigelegt wurde. Dennoch haben die Nachwirkungen noch jahrelang angedauert. Gleichzeitig tobte in Italien ein Machtkampf zwischen dem italienischen König und dem Papst. Es ist nicht verwunderlich, dass um diese Zeit auch das "Unfehlbarkeitsdogma" entstand. Damit sollte der Übergrifflichkeit des Staates gerade im Bereich der Theologie "ein Riegel vorgeschoben" werden.
III) Lösung Weimar:
Für das Deutsche Reich wurde der Konflikt zwischen Kirche und Staat mit der "Weimarer Reichsverfassung" (WRV), der am 31. Juli 1919 in Weimar beschlossenen, am 11. August unterzeichneten und am 14. August 1919 verkündeten ersten effektiven demokratische Verfassung Deutschlands bis heute fortdauernd bereinigt.
"Voraussetzung für die staatskirchenrechlichen Regelungen der WRV war das Ende der Monarchie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und damit jedenfalls im Bereich der evangelischen Kirche das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments. Die Auffassung, daß das Kirchenregiment auf die neue aus der Revolution hervorgegangene Staatsgewalt übergegangen ist, vermochte sich nicht durchzusetzen. Beide Kirchen, die katholische und die evangelische, traten aus der traditionellen Struktur der Beziehung zum Staat heraus." **)Eingedenk der konfessionellen Unterschiede musste das gemeinsame Deutschland eben religiös neutral sein - und den Kirchen die nötige Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gewähren. Das so entstandene Modell des Staatskirchenrechts steht in Europa zwischen der traditionellen Staatskirche etwa bei den Briten und dem völligen Laizismus etwa in Frankreich. Man könnte es als "Modell der kooperativen Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften" bezeichnen.
(vgl. zum historischen Hintergrund und den Vergleich mit dem heutigen "Kulturkampf" um den Islam die "Süddeutsche Zeitung" vom 02. September 2016 "Staat und Frömmigkeit - Religion im Hinterhof" )
B) noch heute geltendes Verfassungsrecht:
Dieses noch heute geltende Verfassungsrecht hat mehrere wesentliche Punkte, insbesondere:
= das Eigentum und die sonstigen (gemeint sind materiellen) Rechte (= z.B. Baulasten) der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften werden garantiert
= den Religionsgemeinschaften wird das Recht zugestanden, die eigenen Angelegenheiten
= im Rahmen der für alle geltenden Gesetze
= selbst zu ordnen und zu verwalten.
I) Zur Interpretation von Rechtsnormen:
Rechtsnormen sind sprachlich formuliert - und die Sprache ist trotz aller Bemühungen manchmal ungenau, die Bedeutung von Wörtern wandelt sich. Rechtsnormen müssen daher interpretiert werden. Im weltlichen Bereich haben sich tradierte Interpretationsmethoden entwickelt, im Kirchenrecht ist die Reihenfolge der Interpretationsmethoden sogar (c. 17 CIC) normiert worden.
Beiden Rechtsgebieten ist gemeinsam, dass zunächst die "philologische Interpretation" maßgeblich ist. Diese Methode nimmt ihren Ausgang am Wortlaut des Gesetzes, oder - wie es der Codex formuliert, "gemäß der eigenen Bedeutung ihrer Worte, die im Text und Kontext zu betrachten ist". Der Codex schreibt weiter: "wenn sie zweifelhaft und dunkel bleibt, ist zurückzugreifen auf Parallelstellen, wenn es solche gibt" (im weltlichen Recht als "systematische Interpretation" bezeichnet), "auf Zweck und Umstände des Gesetzes" (im weltlichen Recht als "teleologische Interpretation" bezeichnet) "und auf die Absicht des Gesetzgebers". Diese Absicht stellt im weltlichen Recht eine absolut nachrangige Interpretationsmethode dar. Denn es ist kaum zu ergründen, welche Absicht ein einzelner Abgeordneter bei seiner Zustimmung im Gesetzgebungsverfahren verfolgte. Vereinzelt werden aber die amtlichen Begründungen zu Gesetzesvorlagen (z.B. als "BT-Drucksache") von Gerichten herangezogen. Das ist im Kirchenrecht anders. Denn die Absicht des einzigen (päpstlichen oder bischöflichen) Gesetzgebers kann durchaus festgestellt werden. Und dem entsprechend stellt die "authentische Interpretation" durch den Gesetzgeber kirchenrechtlich dem Gesetz gleich.
Kommentare sind keine Rechtsquellen. Das sind nur die Normen selbst. Ein Kommentar ist eine mehr oder weniger gut begründete Interpretation der Rechtsquelle. Auch Gerichtsurteile sind solche Interpretationen, die allerdings nur für den gerade einschlägig entschiedenen Rechtsstreit verbindlich sind. Eine mehrfache einheitliche Urteilsfindung (ständige Rechtsprechung) und die Entscheidungen der höchsten Gerichte (höchstrichterliche Rechtsprechung) lassen erwarten, dass in vergleichbaren Fällen auch ähnlich entschieden würde. Insofern ist die "ständige höchstrichterliche Rechtsprechung" ein guter Orientierungsrahmen. Aber auch die kann sich ändern …
II) Zur philologischen Interpretation der Verfassungsnorm:
Eigene Angelegenheiten sind die Angelegenheiten wie beispielhaft das Sakramentenrecht die nur die Kirche etwas angehen. Dort, wo sich kirchlicher und staatlicher Rechtskreis überlagern, handelt es sich um keine eigenen Angelegenheiten sondern um gemischte Dinge (res mixta), und da gilt die kirchliche Unabhängigkeit vom Staat nicht mehr.
Beispiele für diese "gemischten Angelegenheiten" sind etwa das spezifisch kirchliche Arbeitsrecht oder das kirchliche Datenschutzrecht, bei denen kirchliche bzw. den Kirchen nahe stehende Juristen gerne behaupten, dies seien eigene Angelegenheiten, mit der Folge, dass die Geltung dieser kirchlichen Regelungen auch im staatlichen Rechtskreis beansprucht wird. Dass diese Folge aber dann schon die Grundidee "nur kirchlich" ad absurdum führt, zeigt, wie wenig fundiert diese Ansprüche sind. Entweder, es ist eine eigene Angelegenheit, dann tangiert es den Staat und seinen Rechtsbereich nicht - oder es tangiert den staatlichen Rechtskreis, dann kann es aber keine eigene Angelegenheit sein.
In den letzten Jahrzehnten wurde der Begriff der "eigenen Angelegenheiten" sehr großzügig ausgelegt. Sobald die Kirchen etwas als eigene Angelegenheiten bezeichneten waren auch staatliche Gerichte geneigt, die entsprechenden Vorgaben als unprüfbar zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund wurde den Kirchen ein immer größerer "Selbstbestimmungsbereich" zugestanden, der staatlicher Einflussnahme und Kontrolle entzogen war ***). Kirchen entwickelten sich zum "Staat im Staat".
In den letzten Jahren entwickeln sich die staatliche Rechtsprechung und auch die gesellschaftlich Akzeptanz in eine entgegengesetzte Richtung- wieder zurück auf die ursprünglichen Interpretationen. Unter dem Stichwort "staatliche Pflicht zur Justizgewährleistung" ****) werden auch kirchliche Normen hinterfragt. Den Kirchen werden immer mehr Grenzen gezogen. Zurück auf Anfang - und Reset?
Mit dem Schrankenvorbehalt der für alle geltenden Gesetze ist zunächst einmal klar gestellt, dass der Staat im Rahmen seiner Gesetzgebungshoheit festlegt, im welchem Umfang er die Kirchen von der Anwendung staatlicher Normen befreit. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Personalvertretungsgesetze nehmen die Kirchen und Religionsgemeinschaften ausdrücklich aus, es handelt sich also gerade nicht um "für alle geltende Gesetze". Das "Betriebsrätegesetz" der Weimarer Republik galt übrigens - bei gleicher Verfassungslage - auch für die Kirchen. Die Ausnahme der Kirchen aus den Normen des staatlichen Mitbestimmungsrechts ist also nicht zwingend verfassungsrechtlich geboten.
Früher wurde heftig diskutiert, ob der Begriff "Gesetz" nur die in einem formalen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommenen "förmlichen Gesetze" meint, oder ob damit jede materielle Rechtsnorm gemeint ist. Solche materiellen Rechtsnormen sind die im Rang nach den förmliche Gesetzen geltenden Verordnungen oder auch die kommunalen Satzungen, die jeweils erst aufgrund einer förmlichen gesetzlichen Ermächtigungsnorm erlassen werden dürfen.
Wir tendieren zur letzteren Auffassung - selbstverständlich sind "die Kirchen" auch den normalen Abgabesatzungen der Gemeinden oder der Straßenverkehrsordnung und den Unfallverhütungsvorschriften (UVV) der Berufsgenossenschaften unterworfen. Und wir geben damit zugleich neueren verfassungsrechtlichen Interpretationen eine Absage, wonach die Religionsgemeinschaften von allen Normen befreit sein sollen, die für eine Religionsgemeinschaft eine besondere Härte darstellt. Mit dieser Theorie wird ja die verfassungsrechtliche "Notwendigkeit" begründet, die Kirchen von den staatlichen Mitbestimmungsrechten "frei zu stellen". Das darf aber durchaus hinterfragt werden. Wieso ist es für kirchliche Wohlfahrtsverbände eine besondere Härte, wenn in ihrem Altersheim, in ihrer Behinderteneinrichtung, in ihrem Krankenhaus oder in ihrer KiTA die gleichen Regelungen gelten sollen wie bei anderen Trägern auch?
Damit kommen wir zur Selbstordnung und Selbstverwaltung. Beides sind Begriffe, die gerne als "Selbstbestimmung" textlich verkürzt, aber juristisch "unsauber erweitert" wiedergegeben werden. "Selbstordnung" heißt doch nichts weiter, als die Organisation eigenständig zu regeln - wo etwa soll es Diözesen und Pfarreien geben und wie sollen deren Grenzen sein? Dass genau das mit "Selbstordnung" gemeint ist ergibt sich schon aus dem Kontext der genannten staatskirchenrechtlichen Regelungen, der etwa in Bayern auf den Bestand der bayerischen Diözesen verweist (Art. 12 BayKonk).
Und "Selbstverwaltung" ist nichts anderes als das, was im bayerischen Stiftungsgesetz seit dem 01.01.1959 den Kirchen zugestanden ist: die kirchlichen Stiftungen unterliegen nicht mehr der staatlichen, sondern der kirchlichen Stiftungsaufsicht. Die Kirchen bestimmen, wer diese Stiftungen verwaltet und wie diese Stiftungen (im Rahmen des für alle geltenden Stiftungsgesetzes und seiner Vorschriften etwa zur Erhaltung des Stiftungsvermögens) verwaltet und Kapitalien angelegt werden. Diese "eigene Vermögensverwaltung" unabhängig von staatlicher Bevormundung war - und ist - der Kern und der Sinn der staatskirchenrechtlichen Vorschriften. Aber auch dabei sind die für alle geltenden Normen einzuhalten, also etwa Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zu bezahlen. Die Kirchen sind - wie alle anderen Rechtssubjekte auch - dem normalen Rechtsverkehr unterworfen.
Das gilt dann auch im Arbeitsrecht - infolge einer Rechtswahl, wie das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahrzehnten festgestellt hat. Wenn sich die Kirchen des weltlichen Arbeits- und Sozialrechts bedienen, dann gilt auch das weltliche Arbeits- und Sozialrecht in seiner kompletten Ausformung.
III) zur systematischen Interpretation der Verfassungsnorm:
Die systematische Interpretation, also der Vergleich mit anderen Rechtsnormen vergleichbaren Inhalts, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Reichskonkordat stehen die gleichen Regelungen wie in der Verfassung - mit einer wichtigen Konkretisierung. Das Reichskonkordat beschränkt die kirchliche Rechtsetzungsbefugnis auf die eigenen Mitglieder der Kirche (Art. 1 Abs. 2 RKonk, ebenso Art. 1 § 3 BayKonk und cc. 1, 11 CIC). Wieso dann kirchliche Normen für Nichtmitglieder gelten sollen, wieso etwa durch die kirchliche Grundordnung gegen das für alle geltende Gesetz (die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit) einer nicht der Kirche angehörenden Gewerkschaft das Recht zum Arbeitskampf streitig gemacht wird - das lässt sich juristisch nicht wirklich begründen ***). Und bei einem Blick in die katholischen Sozialenzykliken und den katholischen Erwachsenenkatechismus versagt dann auch ein theologischer Begründungsversuch.
IV) zur teleologischen Interpretation:
Diese Interpretationsmethode soll den Sinn eines Gesetzes deutlich machen - und hat einen gewichtigen Nachteil: sie wird unwillkürlich zur Begründung von "Wunschvorstellungen" missbraucht. Soll die Rechtsnorm einen Lebenssachverhalt wirklich so regeln, wie sich der Interpret das Ergebnis gerne wünschen würde ("wünsch Dir was")? Oder hat die Rechtsnorm doch einen anderen Zweck? Wir möchten hier nicht auf die Begründungen von Richardi und anderen eingehen, sondern auf die bereits dargelegte historische Entwicklung der Verfassungsnorm verweisen. Denn aus der historischen Entwicklung lässt sich "Sinn und Zweck" der Rechtsnorm noch am besten ableiten.
Und in diesem Kontext spielen dann auch die bereits erwähnten Konkordatsvereinbarungen eine wichtige Rolle. Diese sind zudem jeweils eine völkerrechtlich verbindliche Verträge, die über c. 3 CIC sogar als vorrangige Rechtsnorm auch kirchenrechtlich von Relevanz ist. Damit kann zur Interpretation des Konkordatsvereinbarungen auch und gerade die kirchenrechtliche Interpretationsmethode herangezogen werden. Und wir finden es bemerkenswert, dass den Kirchen nahe stehende Juristen kaum auf die Konkordatsvereinbarungen, das Kirchenrecht und die darin enthaltenen Beschränkungen eingehen. Wo doch das Kirchenrecht selbst festschreibt, dass die kirchenrechtlichen Normen nur für die Mitglieder der katholischen Kirche gelten (vgl. cc. 1 und 11 CIC), nicht aber für "Nichtmitglieder" wie etwa säkuläre Gewerkschaften gelten können.
C) und jetzt?
Julia Knop (Professorin für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt), wird in einem Interview im Nachtrag zu Ihrem Vortrag vor den Deutschen Bischöfen in Lingen zitiert, wonach die
Grundannahmen unserer "ekklesiologischen Matrix", also des derzeitigen Amts- und Kirchenverständnisses, daraufhin überprüft werden müssen, wo sie eine prekäre Ausübung von Macht begünstigen und womöglich sogar theologisch legitimieren.
Anmerkungen:
*)
Fall "Egenberger" und "geschiedener und wiederverheirateter Chefarzt". Die europäischen Gerichte argumentieren durchaus vorsichtig. Sie heben - wie die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie selbst - auf das Ethos der jeweiligen Kirche ab und geben damit beispielsweise den Weg für verheiratete oder zölibatär lebende Kleriker (Pfarrer) und die Priesterweihe nur für Männer frei. Es bleibt also der jeweiligen Kirche selbst überlassen, ob sie verheiratete Priester oder auch Frauen in einem Weiheamt zulässt.
Bedeutsam wird dieses Ethos auch weniger bei den (knapp dreißig) förderalen protestantischen Kirchen in Deutschland als vielmehr bei der weltweit tätigen katholischen Kirche. Kann denn das Ethos der katholischen Kirche in Salzburg (Österreich) anders sein als in Berchtesgaden, in Straßburg (Frankreich) anders als in Freiburg, in Lüttich (Belgien) anders als in Aachen - oder in Italien anders als in Deutschland? Kann sich das Ethos der katholischen Kirche gegenüber einer Gewerkschaft diesseits der Oder-Neiße Grenze anders darstellen als jenseits der Flüsse?
Was in einem europäischen Land problemlos möglich ist, was dort gerade nicht gegen das Ethos der Kirche verstößt (sondern ggf. sogar gefördert wird), das kann auch in einem anderen Land nicht gegen das Ethos der gleichen Kirche verstoßen. Und was für die katholische Kirche geltende Rechtsnorm ist, wird abschließend im Codex Iuris Canonici (CIC) geregelt der auf theologischer Grundlage aufbaut und am 25. Januar 1983 von Papst Johannes Paul II promulgiert wurde.
**)
zitiert aus Voll, Handbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, Boorberg-Verlag München, 1985
***)
Unter anderen Rüfner und Richardi breiten sich in langen Veröffentlichungen z.B. im Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Duncker & Humblot Verlag, Berlin, 1995 (zweite Auflage) S. 901 ff bzw. S. 927 ff sehr ausführlich darüber aus, dass das Arbeitsrecht etwas kircheneigenes und die Entwicklung entsprechender kirchlicher Normen verfassungsrechtlich geboten sei. Der Can. 1286 1° CIC wird dabei geflissentlich übersehen. Mit dieser Norm wird das gesamte weltliche Arbeits- und Sozialrecht - verpflichtend für die kirchlichen Vermögensverwalter - in das Recht der lateinischen Kirche rezipiert.
Rüfner (S. 901 - 923) geht dabei auf die besonderen Loyalitätspflichten ein.
Wenn denn Rüfners Auffassung richtig wäre, dann hätte es die letzten Entscheidungen des BAG (Fälle Egendorfer und Chefarzt) nicht geben dürfen. Tatsächlich hat es diese Entscheidungen gegeben. Und das gut begründet. Nach unserer Auffassung gehört das Diskriminierungsverbot in seiner europarechtlichen Interpretation im Übrigen auch zu den "für alle geltenden Gesetzen".
Wenn die europäischen Regelungen und die höchstrichterlichen Entscheidungen auf das jeweilige "Ethos" der Kirche abheben, dann bleibt zu fragen, wieso denn das Ethos der katholischen Kirche in Deutschland anders sein soll als sonst in der Welt.
Richardi (S. 927 - 958) geht auf das kollektive kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht ein, und begründet mit einem "verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht", dass die Kirchen keine Tarifverträge mit den Gewerkschaften abschließen müssten.
Abgesehen davon, dass die Verfassung von Selbstordnung und Selbstverwaltung spricht, benötigt man diese Hilfskonstruktion nicht, um Tarifverträge abzulehnen. Das Recht der "negativen Koalitionsfreiheit" steht jedermann, auch jedem Arbeitgeber und damit natürlich auch der Kirche zu. Freilich liefert sich ein solcher Arbeitgeber damit dem "Erzwingungsstreik" einer Gewerkschaft aus, denn eine "tarifvertragliche Friedenspflicht" besteht in einem solchen Fall nicht.
Und Richardi bleibt eine Antwort auf die Frage schuldig, weshalb nicht aus dem universellen kirchlichem Recht und dem päpstlichen Lehramt (konkretisiert in den Sozialenzykliken) sogar eine Verpflichtung bestünde, auch in der deutschen Kirche das "Gewerkschaftsprinzip" umzusetzen - bis hin zum Tarifvertrag (so die Sozialenzyklika "Mater et Magistra").
Denn es ist in c. 1286 1° CIC eindeutig geregelt - die kirchlichen Vermögensverwalter müssen das weltliche Arbeits- und Sozialrecht genauestens gemäß den von der Kirche überlieferten Grundsätzen beachten (vgl. dazu Heimerl/Pree, Handbuch des Vermögensrechts der katholischen Kirche, Pustet-Verlag 1993, Rd.Nrn. 6/22, 6/24 und 6/30 ff).
****)
Anzumerken ist, dass die verfassungsrechtlich zugestandenen Grundrechte unmittelbar nur den Staat und seine öffentlichen Einrichtungen binden. Die Grundrechtsbindung verpflichtet Dritte nicht unmittelbar - aber schon die staatlichen Gerichte unterliegen der Grundrechtsbindung.
Daher können kirchliche Gerichte, die noch dazu keine Kompetenz zur Normenkontrolle haben, über die Grundrechtsverstöße kirchlicher Einrichtungen in der Regel nicht urteilen (a.A.: Arning in "Grundrechtsbindung kirchlicher Gerichtsbarkeit", Nomos, 2017 S. 314 und 323, der eine "faktische Bindung" an die Prozessgrundrechte ausarbeitet). Es ist der Staat, der die Einhaltung der Grundrechte überwachen und für alle Bürger einen wirkungsvollen Rechtsschutz gewährleisten muss. Ein Grundrechtsverstoß kann daher erst vor einem staatlichen Gericht wirksam geltend gemacht werden. Das ist einer der Gründe, warum die eigenständige kirchliche Gerichtsbarkeit (sowohl der Arbeits-, wie der Datenschutzgerichte) vielfach kritisch betrachtet wird.
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