Ähnliche Aufgaben, monatlich bis zu 550 Euro weniger Gehalt: Das kann unter Umständen rechtens sein, urteilen die Richterinnen und Richter am Bundesarbeitsgericht. Grund ist die Tarifautonomie.und weiter berichtet der SPIEGEL:
Hierzu betonen auch die Richterinnen und Richter, dass die Tarifparteien zwar den Gleichheitsgrundsatz beachten müssen. Gleichzeitig verschaffe ihnen die Tarifautonomie aber Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume. Die gerichtliche Kontrolle sei daher »auf eine Willkürkontrolle beschränkt«. Eine Ungleichbehandlung sei nur dann gegeben, wenn »ein einleuchtender Grund für die Differenzierung fehlt«.
Diese Begründung lässt aufhorchen - denn kirchliche Regelungen sind keine Tarifverträge, sondern nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung nur "Allgemeine Geschäftsbedingungen" (AGBs - §§ 305 ff BGB), also vom Arbeitgeber einseitig bereitgestellte Regelungen. Daran ändert auch nichts, dass vor einer Inkraftsetzung durch die Bischöfe als "Kirchenrecht" irgendwann einmal in irgendeiner Form irgendwie bestimmte Vertreter der Mitarbeitenden beratend eingebunden waren (wie das geschieht ist für jeden der "Dritten Wege" unterschiedlich geregelt). Das macht neugierig - sollte diese "Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz" in AGBs nicht gelten, auch oder selbst, wenn diese kirchlichen AGBs das vorliegende Tarifvertragsrecht des öffentlichen Dienstes mehr oder weniger detailgetreu abschreiben?
Ein Blick in das Urteil (und letztendlich in das Gesetz) erleichtert die Rechtsfindung.
Also erst einmal das Urteil:
Das Bundesarbeitsgericht hat die Entscheidung 4 ABR 21/24 "Eingruppierung einer Medizinischen Fachangestellten" hier veröffentlicht.
LeitsatzAuch hier ist wieder von den Tarifvertragsparteien die Rede - die Entscheidung gilt also ausschließlich für Tarifverträge. Dennoch lässt sich vermuten, dass sie wohl ähnlich auch für kirchlichen AGBs fallen würde. Dazu nochmals ein Passage aus dem Leitsatz:
Die Tarifvertragsparteien haben bei der Normsetzung aufgrund einer sich unmittelbar aus der Verfassung ergebenden Beschränkung der Tarifautonomie den allgemeinen Gleichheitssatz zu achten. Die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ist bei Tarifnormen, deren Gehalte – wie etwa bei der Festlegung von Tätigkeitmerkmalen zur Bestimmung des Entgeltanspruchs – dem Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unterfallen, auf eine Willkürkontrolle beschränkt, wenn spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind.
Die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ist bei Tarifnormen, deren Gehalte – wie etwa bei der Festlegung von Tätigkeitmerkmalen zur Bestimmung des Entgeltanspruchs – dem Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unterfallen, auf eine Willkürkontrolle beschränkt, wenn spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind.Das werden die kirchennahen Juristen sicher heran ziehen, wenn es um eine richterliche Kontrolle der kirchlichen Tarif-AGBs geht.
Bei näherer Einsicht in das Urteil ist aber klar erkennbar, dass diese Entscheidung ausschließlich auf Tarifverträge abhebt, die im Wege des Koalitionsrechts nach Tarifvertragsgesetz zustande kommen:
e) Hierin liegt – entgegen der Auffassung des Betriebsrats – auch dann kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, wenn man davon ausgeht, dass MFA danach für die im Wesentlichen gleiche Tätigkeit im AOP eine geringere Vergütung erhalten als OTA.Bei kirchlichen Tarif-AGBs ist diese Begründung durchgehend gerade nicht anwendbar.
30
aa) Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 144; BAG 5. Juli 2023 – 4 AZR 289/22 – Rn. 33). Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können. Dieser Freiheit liegt die Erwartung zugrunde, dass der autonome Verhandlungsprozess einer Ordnung und Befriedung des Arbeits- und Wirtschaftslebens dient. Dem Tarifvertrag kommt daher eine Angemessenheitsvermutung zu. Es darf grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das von den Tarifvertragsparteien erzielte Verhandlungsergebnis die Interessen beider Seiten sachgerecht zum Ausgleich bringt (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 144 mwN).
31
bb) Den Zweck, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu fördern, können die von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Koalitionen nur dann erreichen, wenn die durch sie abgeschlossenen Vereinbarungen Rechtswirkungen in den Individualarbeitsverhältnissen der Tarifgebundenen entfalten. Die Tarifautonomie sichert die kollektive Interessendurchsetzung und die Umsetzung der Ergebnisse in den individuellen Arbeitsverhältnissen grundrechtlich ab und erweitert die individuelle Freiheit der Tarifgebundenen. Die Kollektivierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen kann diese Freiheit aber auch gefährden (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 147 ff.).
32
cc) Das Koalitionsgrundrecht schützt die Mitglieder der Tarifvertragsparteien vor den damit verbundenen Freiheitsgefährdungen, indem die Tarifvertragsparteien jedenfalls den allgemeinen Gleichheitssatz bei der Tarifnormsetzung zu achten haben. Diese Grenze der Tarifautonomie folgt unmittelbar aus der Verfassung. Einer ausdrücklichen gesetzlichen Normierung der Folgen gleichheitswidriger Tarifnormen bedarf es nicht (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 149, 152 f.). Daher können die Gerichte für Arbeitssachen unter Hinweis auf die Grenzen der Tarifautonomie wegen des Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG als verfassungswidrig befundenen Tarifnormen die Geltung versagen und spezifische Rechtsfolgen zur Auflösung der Konfliktlage auch im Verhältnis der unmittelbar streitbeteiligten gleichgeordneten Grundrechtsträger – der tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber – anordnen (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 155). Soweit der Senat bisher davon ausgegangen ist, die Tarifvertragsparteien seien bei ihrer Normsetzung nicht unmittelbar an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden (zuletzt BAG 12. Juni 2024 – 4 AZR 208/23 – Rn. 26), hält er daran nicht mehr fest.
33
dd) Die Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz hat aber den Zweck der Tarifautonomie, eine grundsätzlich autonome Aushandlung der Tarifregelungen zu ermöglichen, zu berücksichtigen (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 158). Den Tarifvertragsparteien stehen bei der Wahrnehmung der verfassungsrechtlich eröffneten Kompetenz zur Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume zu. Es bleibt grundsätzlich den Tarifvertragsparteien aufgrund dieser Sachnähe und ihrer tarifpolitischen Kenntnisse überlassen, ob und für welche Bereiche sie spezifische Regelungen treffen und durch welche situationsbezogenen Kriterien diese ausgestaltet sind. Dabei dürfen sie auch Typisierungen und Generalisierungen vornehmen und müssen nicht die objektiv vernünftigste und sachgerechteste Lösung treffen. Die Tarifvertragsparteien sind sogar befugt, Regelungen zu treffen, die die Betroffenen im Einzelfall für ungerecht halten und die für Außenstehende nicht zwingend sachgerecht erscheinen (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 158, 160 mwN; iE ebenso BAG 5. Juli 2023 – 4 AZR 289/22 – Rn. 35 mwN).
ee) Der Umfang der Gestaltungsspielräume ist insbesondere abhängig von Regelungsgegenstand, Komplexität der Materie, den betroffenen Grundrechten sowie Art und Gewicht der Auswirkungen für die Tarifgebundenen. Bei Tarifnormen, deren Gehalte im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und bei denen spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind, ist die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG angesichts der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Spielräume der Tarifvertragsparteien auf eine Willkürkontrolle beschränkt (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 161, 163). Willkür der Tarifvertragsparteien ist nicht schon dann zu bejahen, wenn sie unter mehreren Lösungen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung treffen. Tarifnormen sind nur dann willkürlich, wenn die ungleiche Behandlung der Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Differenzierung fehlt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Unsachlichkeit der Differenzierung evident ist (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 164).
35
ff) Bei der Prüfung, ob differenzierende Tarifnormen den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes standhalten, sind im Falle einer Willkürkontrolle alle objektiven Gründe heranzuziehen. Eine Offenlegung der Gründe oder der Zwecksetzung ist nicht erforderlich (BVerfG 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21 ua. – Rn. 165, 167).
...
hh) Den Tarifvertragsparteien ist es danach nicht durch Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt, für MFA eine niedrigere Vergütung als für OTA vorzusehen, auch wenn sie Tätigkeiten ausüben, die denen einer OTA entsprechen. Der sich durch die Tätigkeitsmerkmale ergebende Entgeltanspruch (§ 15 Abs. 1 TVöD/VKA) unterfällt dem Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, diesen nicht nur von der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit, sondern auch von weiteren persönlichen Voraussetzungen, wie dem Nachweis bestimmter Kenntnisse oder einer speziellen Ausbildung, abhängig zu machen (BAG 24. September 2014 – 4 AZR 316/12 – Rn. 24; 25. Januar 2012 – 4 AZR 147/10 – Rn. 39, BAGE 140, 291). ...
Im AGB-Recht gibt es dagegen spezielle Normen (§§ 306a BGB), die zur Unwirksamkeit einer AGB-Bestimmung führen. Wir ersparen uns hier eine Würdigung der jeweiligen Bestimmungen in Verbindung mit konstruierten Einzelfällen. Wir können im jeweiligen Einzelfall nur raten, sich im Zweifel anwaltlich beraten zu lassen.
Wir möchten aber in die Diskussion noch einen weiteren Aspekt einführen:
Was ist, wenn die Tarif-AGBs der Kirchen im Einzelfall einen Tarifvertrag (z.B. des öffentlichen Dienstes) wortgeteu abschreiben oder kopieren, dafür aber an anderer Stelle (z.B. wöchentliche Arbeitszeit, Urlaub, Kostenübernahme für Beihilfe- oder Zusatzversorgungsleistungen, Kündigungsregelungen) vom einschlägigen Tarifvertrag abweichen?
Eine materiell (nicht formal) vergleichbare Situation hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Bauverttragsrecht mehrfach entschieden. Dort liegen mit der "Verdingungsordnung Bau" (VOB) in sich ausgewogene Vertragsbedingungen vor. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun seit über 20 Jahren in mehreren Urteilen klargestellt, dass bereits geringfügige Abweichungen von der VOB dazu führen, dass diese nicht als Ganzes vereinbart ist und daher einer Inhaltskontrolle unterliegt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Abweichung für den Auftragnehmer von Vorteil oder Nachteil ist (hier der Kommentar von Beck-online und hier eine weitere Stellungnahme eines Fachverbandes zum ersten diesbezüglichen BGH-Urteil). Das kann nach unserer Überzeugung im Arbeitsrecht nicht anders sein. Denn was im Werkvretragsrecht gilt muss im Dienstvertragsrecht - wo der strukturell unterlegende einzelne Arbeitnehmer noch viel mehr dem Übergewicht eines übermächtigen Arbeitgebers ausgeliefert ist - noch mehr gelten. Jede Abweichung von einem zugrunde gelegten, in sich insgesamt ausgewogenen Tarifvertrag, muss daher zwangsläufig dazu führen, dass die abweichende Fassung einer AGB eben nicht mehr als Ganzes ausgewogen ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Ihr könnt Eure Kommentare vollständig anonym abgeben. Wählt dazu bei "Kommentar schreiben als..." die Option "anonym". Wenn Ihr unter einem Pseudonym schreiben wollt, wählt die Option "Name/URL". Die Eingabe einer URL (Internet-Adresse) ist dabei nicht nötig.
Wir freuen uns, wenn Ihr statt "Anonym" die Möglichkeit des Kommentierens unter Pseudonym wählt. Das Kommentieren und Diskutieren unter Pseudonym erleichtert das Austauschen der Argumente unter den einzelnen Benutzern.