Montag, 18. März 2013

Konsequenzen aus den BAG-Entscheidungen zum Streikrecht für die Kirchen und die Gewerkschaften - Referat von Prof. Dr. Heide Pfarr


Wir dokumentieren im Folgenden den Vortrag, den Frau Prof. Dr. Heide Pfarr am 5. März 2013 auf der Fachtagung in Eichstätt gehalten hat. Weitere Dokumente aus der Fachtagung haben wir bereits veröffentlicht: Thesenpapier AG 3 Günter Busch - Thesenpapier AG 3 Thomas Rühl - Thesenpapier zum Vortrag von Frau Prof. Pfarr

Hier nun das Referat von Prof. Dr. Heide Pfarr:


Referat für die 16. Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht am 4. und 5. März 2013 in Eichstätt


Die schriftlichen Entscheidungsgründe der Urteile des Bundesarbeitsgerichts zum Streikrecht für die Kirchen und die Gewerkschaften liegen am 5. März 2013 noch nicht vor. Meine Schlussfolgerungen haben deshalb , neben der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur, die ja umfänglich ist, als Grundlage nur die Pressemitteilungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und die mündliche Verhandlung.

Nach den Urteilen des BAG vom 20. November 2012 herrscht Verwirrung. Die Kirche kam mit ihren vielen Klageanträgen nicht durch und fühlt sich als Gewinnerin. Die Gewerkschaften haben gewonnen und fühlen sich als Verliererinnen. Beide irren sich.
Verloren, bei beiden, haben allerdings diejenigen, die extreme Positionen vertreten haben: die Kirche die uneingeschränkte Vorrangstellung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, unter deren Dach alles erlaubt ist. Die Gewerkschaften die uneingeschränkte Vorrangstellung der Koalitionsfreiheit, die es gestattet, kirchliche Einrichtungen einfach als zweitgrößten Arbeitgeber der Bundesrepublik zu behandeln. Beide Extrempositionen waren keineswegs unangefochten. Es gab im Schrifttum warnende Stimmen, die Mittelwege suchten. Aber die wurden bis dato konsequent überhört.
Die beiden Grundsatzurteile des BAG decken ein breites Problemspektrum ab. Grundlage des einen BAG-Urteils waren die Klagen der evangelischen Kirche von Westfalen, der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, deren diakonische Werke und weiterer diakonischen Einrichtungen gegen die Gewerkschaft ver.di, die Streiks durchgeführt hatte. In diesem Urteil finden sich die Aussagen des BAG zum Dritten Weg. Grundlage des Zweiten Urteils mit dem Schwerpunkt Zweiter Weg war die Klage des Arbeitgeberverbands der vormaligen nordelbischen evangelisch-lutherischen Kirche gegen den Marburger Bund, der den Abschluss von Tarifverträgen verlangt hatte. Die Klägerinnen wendeten sich mit vorbeugenden Unterlassungsklagen gegen befürchtete Aufrufe zu Streiks in diakonischen Einrichtungen.
Das BAG musste sich auseinandersetzen mit einer umfänglich geführten verfassungsrechtlichen und kirchenrechtlichen Grundsatzdiskussion. Dabei geht es um die Frage, ob das in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz. 1 WRV garantierte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften auch für die privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse in kirchlichen Einrichtungen uneingeschränkten Vorrang hat, oder ob die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit, die ihrerseits vorbehaltlos gilt, den Gewerkschaften erlaubt, Tarifverträge für kirchliche Einrichtungen auch kampfweise zu erzwingen.
Der Eindruck eines Sieges bei den Kirchen und der Niederlage bei den Gewerkschaften beruht darauf, dass das BAG grundsätzlich das Recht der Kirchen anerkennt, sich für den Dritten Weg zu entscheiden. Es respektiert, dass die Kirchen für die Regelung der Arbeitsverträge auf das Leitbild der Dienstgemeinschaft setzen und eine kampfweise Durchsetzung der Arbeitnehmerinteressen für unvereinbar mit diesem religiös begründeten Leitbild halten. Nach Ansicht des Gerichts kommt es dabei auch nicht darauf an, ob die kirchlichen Einrichtungen durch eine spezielle kirchliche Praxis geprägt sind und welcher Glaubensrichtung die Beschäftigten anhängen. Die Kirche darf Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen grundsätzlich ablehnen und stattdessen ein kirchenspezifisches konsensorientiertes Regelungsverfahren einführen. Akzeptiert sie aber Tarifverträge – der Zweite Weg – , so kann sie dennoch verlangen, dass diese nicht durch Arbeitskämpfe erzwungen werden, vorausgesetzt, dass sie sich einer generellen und verbindlichen Schlichtungsvereinbarung unterwirft. Zurückgewiesen wurden damit jene Stimmen in der kirchennahen rechtswissenschaftlichen Literatur, die meinten, einen Tarifvertrag ohne Streikmöglichkeit – und damit den Zweiten Weg – könne es keinesfalls geben. Man hörte bei der Urteilsverkündung das Aufatmen der einen Seite.
Aber auch die Gewerkschaften hatten einen bedeutsamen Erfolg, der über das Gewinnen in den Einzelverfahren hinausgeht. Im Gegensatz zu einigen Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur stellt das BAG nämlich fest, dass die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG nicht durch das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen vollständig verdrängt wird. Vielmehr sieht es eine Grundrechtskollision und will im Wege praktischer Konkordanz einen schonenden Ausgleich zwischen diesen beiden Verfassungspositionen erreichen.
Als Folge wird zum einen gefordert, dass sich die Gewerkschaften auch innerhalb des Dritten Weges koalitionsmäßig betätigen können. Dazu gehören mindestens das Zugangsrecht für die Gewerkschaften zu den kirchlichen Einrichtungen und Möglichkeiten zur Mitgliederwerbung.
Zum anderen betont das BAG den verfassungsrechtlichen Grundgedanken, der hinter dem Schutz der Koalitionsfreiheit und damit der Arbeitskampffreiheit steht, und leitet aus ihm die Voraussetzungen ab, die ein verfassungskonformer Dritter Weg erfüllen muss. Auch die Kirchen müssen anerkennen, dass es einen Interessengegensatz zwischen dem kirchlichen Arbeitgeber und den Beschäftigten gibt. Wie im Tarifrecht kann dieser Gegensatz nicht durch „kollektives Betteln“ seitens der Beschäftigten aufgehoben werden. Der Dritte Weg muss daher gewährleisten, dass es zu einem angemessenen Ausgleich der Interessen kommt. Das konsensuale Regelungssystem des Dritten Weges darf die strukturelle Verhandlungsschwäche der Arbeitnehmerseite nicht ignorieren, sondern muss gleichberechtigte Verhandlungsmöglichkeiten schaffen. Die Verhandlungsergebnisse müssen von den zuständigen Gremien verbindlich vereinbart sein, also den Arbeitsverträgen zwingend zugrundegelegt werden.
Diese Maßstäbe führten dazu, dass die Kirche mit ihren globalen Unterlassungsanträgen vor Gericht gescheitert ist. Denn die praktische Ausformung des Dritten Weges, wie sie bei den Einrichtungen der Klägerinnen festgestellt wurde, erfüllt die vom Gericht formulierten Voraussetzungen nicht. Die kirchlichen Regelungen gewährleisten nicht eine gleichberechtigte Verhandlungsposition der Beschäftigten, nicht eine völlig neutrale Schlichtung und auch nicht verbindliche Ergebnisse. Wenn und solange aber der Dritte Weg im Vergleich zum Tarifrecht mit seinem Prinzip von Druck und Gegendruck keinen angemessenen Interessenausgleich hervorbringen kann, darf er das gesetzliche Regelungssystem des Tarifvertrages nicht verdrängen. Arbeitskämpfe der Gewerkschaften können insofern in kirchlichen Einrichtungen nicht generell ausgeschlossen werden.
Soweit zunächst das, was den Pressemitteilungen und der mündlichen Verhandlung des BAG am 20. November 2012 zu entnehmen ist. Das BAG hat allerdings nur die Grundsatzkontroverse entschieden und damit eine neue Diskussionsebene geschaffen. Viele rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen sind obsolet geworden. Die Konsequenzen für die Kirchen und die Gewerkschaften sind zwar ganz erheblich, aber die Grenzlinien zwischen erlaubten und verbotenen Arbeitskämpfen bei kirchlichen Einrichtungen noch durchaus ungeklärt. Deshalb irren sich diejenigen, die hier in den Kategorien von Siegern und Verlierern denken. Für beide Seiten bleibt vielmehr viel zu tun, um auf der Basis der grundsätzlichen Ausführungen des Gerichts das Konfliktfeld, das schon so lange schwärt, endlich einer für alle akzeptablen Lösung zuzuführen.
Ich beginne mit den Gewerkschaften, den formalen Siegerinnen der Urteile insofern, als ihnen ein Streikrecht zur Durchsetzung von Tarifverträgen durch das Gericht nicht grundsätzlich und allgemein untersagt wurde. Bedeutet das, dass die Gewerkschaften nun vorläufig immer für den Abschluss eines Tarifvertrages streiken können? Die Urteile betrafen alles kirchliche Einrichtungen aus dem Raum der evangelischen Kirche, nicht der katholischen. Ich habe nicht genug Einblick, um sagen zu können ob es denn irgendwo kirchliche Einrichtungen gibt, die die Voraussetzungen des BAG bereits gänzlich erfüllen. Ich habe da Zweifel. Müssen denn nun die Gewerkschaften  aber in jedem Fall die konkrete Ausgestaltung des Dritten Weges für die bestreikte kirchliche Einrichtung prüfen? Wie können sie überhaupt wissen, welche Defizite jeweils bestehen, auch in Bezug auf die konkrete Umsetzung von Regelungen, die auf dem Papier als angemessen gelten könnten? Und welches Gewicht wird jeweils unterschiedlichen Defiziten nach den neuen Grundsätzen beizumessen sein? Schwierige Fragen für die Gewerkschaft, die über Streiks zur Durchsetzung der Interessen der Beschäftigten nachdenkt.
Geklärt ist eines: alle kirchlichen Einrichtungen, die den Dritten Weg beschreiten und Klägerinnen in den nun entschiedenen Verfahren waren sowie jene, die nach dem gleichen Regelungen arbeiten, dürfen jedenfalls so lange bestreikt werden, wie sie nicht die Voraussetzungen für angemessene Verfahrensregelungen für Arbeitskonflikte geschaffen haben. Ein Arbeitskampf gegenüber anderen kirchlichen Einrichtungen bleibt für die Gewerkschaft auch nach diesem Urteil allerdings ein Risiko, wenn diese abweichende Konfliktverfahren haben.
Auf der ganz sicheren Seite sind die Gewerkschaften allerdings, wenn sie eine neue Kampagne zur Mitgliederwerbung starten. Bezeichnend ist, dass es nach den Streikrechtsurteilen des BAG zu keinem Urteil mehr gekommen ist, das das Zugangsrecht der Gewerkschaften zu kirchlichen Einrichtungen klargestellt hätte. Das BAG hatte einen Verhandlungstermin zu dieser Streitfrage schon auf den 11.12.2012 bestimmt. Das beklagte diakonische Werk hat den Anspruch aber kurz davor anerkannt. In einem Urteil hätten die Gewerkschaften zweifellos das Zugangsrecht auch bestätigt bekommen. Das konkrete Verhalten kirchlicher Einrichtungen gegenüber den Gewerkschaften dürfte jedenfalls ein wichtiger Test sein. Jetzt muss sich zeigen, ob die Kirchen endlich kooperationsbereiter sind und sich auf die neuen Grundsätze der Rechtsprechung konstruktiv einlassen. Auf eine besonders zukunftsträchtige Möglichkeit für Gewerkschaften und die Kirchen komme ich am Schluss noch zurück.
Tatsächlich sind nämlich die Konsequenzen der BAG-Urteile für die Kirchen und ihre Einrichtungen dramatisch. Trotz der Bestätigung des Dritten Weges können sie sich keineswegs als Gewinnerinnen fühlen. Denn nach dem Urteil ist eine Generalüberholung des Dritten Weges fällig und, will man sich weiterhin auch kampfweise durchgesetzten Tarifverträgen entziehen, unabdingbar.
Folgende Einzelfragen sind erkennbar, wobei nicht davon auszugehen ist, dass in den Entscheidungsgründen der Urteile hierfür bereits abschließende Hinweise zu erwarten sind.
Der Dritte Weg geht davon aus, dass es eines kampfweisen Drucks zur angemessenen Berücksichtigung der Interessen der Beschäftigten nicht bedarf. Vielmehr soll ein befriedendes und befriedigendes Ergebnis durch das Einigungsverfahren hergestellt werden. Die Regelungen, die bisher hierfür vorgesehen sind, konnten das nicht gewährleisten. Sicherlich wird es zu Details weiterhin Streit geben. Auch die Arbeitsgerichte werden wohl noch den einen oder anderen Punkt klären müssen. Dazu gehört auch die Frage, welche Zusammenschlüsse von Beschäftigten der kirchlichen Einrichtungen überhaupt als Gewerkschaft anzusehen sind und das Recht auf koalitionsmäßige Betätigung aus Art. 9 Abs. 3 GG gegenüber den kirchlichen Einrichtungen geltend machen können. Es geht um die Frage der sozialen Mächtigkeit eines solchen Zusammenschlusses, die Voraussetzung für die Anerkennung als Gewerkschaft ist. Schließlich haben wir in der Bundesrepublik böse Erfahrungen gemacht, wenn Vereine mit der Behauptung, Gewerkschaft zu sein, willfährig Vereinbarungen mit Arbeitgebern abschlossen, die deren Interessen, nicht aber die von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bedienten. Das Kriterium, der Zusammenschluss von Beschäftigten sei sozial mächtig, wenn er im Stande sei, gegenüber dem Arbeitgeber Druck dahingehend auszuüben, die Interessen der Beschäftigten zu berücksichtigen, ist schwierig, wenn ein Kampfmittel wie die Streikdrohung für eine Druckausübung gerade nicht erlaubt ist. Die Anzahl der Mitglieder eines Zusammenschlusses und ihr Anteil an den Beschäftigten allein sagt nicht genug aus. Denn die Erfahrung hat gelehrt, dass Gewerkschaften auch mit niedrigem Organisationsgrad dann sozial mächtig und durchsetzungsstark sind, wenn es ihnen gelingt, dass Nichtmitglieder ihrem Aufruf zu Kampfmaßnahmen folgen. Die Rechtsordnung erlaubt dies uneingeschränkt. Gewerkschaften gelingt diese Folgebereitschaft, wenn sie die Interessen der Beschäftigten zutreffend formulieren und diesen deren Dringlichkeit einleuchtet. In der Geschichte der Bundesregierung ist die Beteiligung von Nichtmitgliedern sehr verbreitet und beweist die soziale Mächtigkeit eines Zusammenschlusses von Beschäftigten. Welche Zusammenschlüssen von Beschäftigten aber bei kirchlichen Einrichtungen Gewerkschaftsrechte wahrnehmen können, ist noch ungeklärt. Da MAV Betriebsräten gleichen, können sie und ihre Zusammenschlüsse gewerkschaftliche Rechte jedenfalls nicht beanspruchen.
Nach meiner Einschätzung kann aber bereits jetzt folgendes auf der Basis der Urteile festgestellt werden: Die Verbindlichkeit der Arbeitsrechtsregelungen des Dritten Weges muss garantiert werden. Ausnahme- und Genehmigungsvorbehalte sind damit nicht vereinbar. Die Möglichkeiten der Wahl zwischen unterschiedlichen Regelungen und der Verweisung auf irgendwo anderweit abgeschlossene Vereinbarungen müssen beseitigt werden. Gelten dürfen nur diejenigen Arbeitsrechtsregelungen, die mit denjenigen vereinbart wurden, die für die Beschäftigten der entsprechenden kirchlichen Einrichtung sprechen können.
Es muss gewährleistet werden, dass die Gewerkschaften sich in den kirchlichen Einrichtungen koalitionsmäßig betätigen und in den Verhandlungsprozess einbringen können. Sicherlich reicht es dafür nicht aus, wenn einzelne Mitarbeiterverteterinnen oder – vertreter Gewerkschaftsmitglieder sind. Vorschriften über die Besetzung der Gremien, die über Arbeitsrechtsregelungen verhandeln, dürfen nicht Quoten und persönliche Merkmale voraussetzen, die eine Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern ausschließen.
Können sich die paritätisch besetzten Gremien auf die Arbeitsrechtsregelungen nicht einigen, muss der Dritte Weg ein Verfahren vorsehen, das ebenso wie das Tarifvertragssystem ein „kollektives Betteln“ der Beschäftigten ausschließt. Dazu müssen neutrale Schlichter oder Schiedsgerichte vorgesehen werden. Deren Besetzung muss allerdings in einer Weise geregelt sein, dass die Erfolgschance für Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite gleich ist – denn nur dann entsteht der notwendige Einigungsdruck schon bei den Verhandlungen, ohne dass jedes Mal das Schiedsgericht auch tatsächlich angerufen werden muss.
Man könnte sich nun fragen, warum die kirchlichen Einrichtungen bei der Ausgestaltung des Dritten Weges bisher so auffällig von den Erfordernissen eines angemessen ausgleichenden Verfahrens abgewichen sind, obwohl die Argumente des BAG doch nahe liegen. Die Berichterstattung zu den Verhältnissen in kirchlichen Einrichtungen ist seit langem überaus negativ. Eine Sendung bei Phoenix war außerordentlich kritisch und deren Empörung auch verständlich. Gezeigt wurden Zustände, die durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Outsourcing, Lohndumping und insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen gegenüber denen im öffentlichen Dienst gekennzeichnet sind, und das eben nicht nur bei einigen so genannten schwarzen Schafen. Zur Begründung wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es der Wettbewerbsdruck sei, der zu einem solchen Verhalten gegenüber Beschäftigten zwinge, obwohl das den Wertvorstellungen der Kirche eigentlich nicht entspreche, wie einige Kirchenvertreter beschämt einräumen. Aber keineswegs alle reden so. In der Phoenixsendung wurde ein Pfarrer, zuständig für ein von der Kirche übernommenes Krankenhaus, besonders deutlich: die von ihm frisch Outgesourcten würden nunmehr zwar schlechter bezahlt und behandelt, aber eben nach ihrem Marktwert. Das ist die Kurzfassung dessen, was man von Leitern kirchlicher Einrichtungen seit Jahren gehört hat. Kennzeichnend ist zweierlei: zum einen die naive und unreflektierte Vorstellung von Markt und Preisbildung im Arbeitsverhältnis, die die Ursachen und Verantwortlichkeiten einfach ausblendet. Zum anderen wird die Rolle der Kirchen ignoriert, also die gesellschaftliche Wirkung, die sie erreichen wollen. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es eben nicht immer das Gleiche. Die Kirchen müssen ihre verfassungsrechtlichen Sonderstellung zumindest gegenüber der Öffentlichkeit – wenn schon nicht vor Gericht – durch ihre Praxis legitimieren. Die Menschen meinen ganz einfach: „Wo Kirche draufsteht, muss auch Kirche drin sein.“
Sicherlich ist in einigen Bereichen, etwa auch der Altenpflege, der Konkurrenzdruck groß und insgesamt werden im pflegerischen und erzieherischen Bereich, in dem ja überwiegend Frauen arbeiten, ganz allgemein die von den Beschäftigten erbrachten Leistungen nicht angemessen honoriert. (Nebenbemerkung: umso wichtiger ist ein gesetzlicher flächendeckender Mindestlohn, der wenigstens unten eine menschenwürdige Bezahlung absichert. Das von der Union vorgeschlagene Modell einer Lohnuntergrenze nach Branchen hingegen würde die ständige ungerechtfertigte Minderbewertung der sozialen Dienstleistungen auch noch zementieren.) Die Anpassung der kirchlichen Einrichtungen an die schlechte Praxis in der freien Wirtschaft halte ich aber nicht nur für menschenunwürdig, sondern auch für kurzsichtig und unangemessen. Qualifizierte und motivierte Beschäftigte werden die Kirchen so nicht halten können und der Ruf der kirchlichen Einrichtungen wird nachhaltig beschädigt. Dabei gibt es Auswege, und dazu zählt gerade derjenige, der bisher so vehement abgelehnt wurde: die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften.
Ich zeige eine Alternative auf zu jenem beschwerlichen Weg, den die Kirchen nun nach dem Urteil des BAG gehen müssen, um den Dritten Weg verfassungsfest zu machen. Beschwerlich ist dieser Weg insbesondere für die evangelische Kirche und ihre Einrichtungen, weil die Neugestaltung angesichts der Zersplitterung und der unterschiedlichen Entscheidungsebenen überaus langwierig ist – von 3-6 Jahren ist die Rede. Die neuen Bedingungen verlangen umfangreiche Diskussionsprozesse, sie sind schwierig zu formulieren und umzusetzen. Zweifelsfragen müssten möglicherweise wieder gerichtlich geklärt werden. Da gibt es lange Unruhe und die ganze Zeit besteht gewerkschaftlicher Streikdruck, nicht überall, aber häufig genug, um in die Schlagzeilen zu kommen. Diese problematische Frage könnte aber ganz vernünftig gewendet werden, zum Nutzen aller, und zwar wirklich aller in der sozialen karitativen Dienstleistungsbranche, auch zum Nutzen der Beschäftigten dieser Branche außerhalb der kirchlichen Einrichtungen.
Als größte Arbeitgeberinnen in der Branche könnten die kirchlichen Einrichtungen einen angemessenen Tarifvertrag mit den Gewerkschaften abschließen und diesen für allgemein verbindlich erklären lassen. Eine gute Gelegenheit übrigens für den Gesetzgeber, das überaus verfehlte Zustimmungserfordernis der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände gleich zu streichen, da diese Allgemeinverbindlicherklärungen aus ideologischen Gründen gerne widersprechen. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung hätte zur Folge, dass die entsprechenden Regelungen im Geltungsbereich des Tarifvertrages (also zum Beispiel der Pflegebranche) von allen Arbeitgebern, unabhängig von ihrer Tarifbindung, angewandt werden müssten. Die Unterbietungskonkurrenz bei den Arbeitsbedingungen und Entgelten, auf die sich die Dienstgeber so gerne berufen, könnte damit unterbunden werden. Das Fehlen von Schmutzkonkurrenz würde den kirchlichen Einrichtungen erlauben, wieder eine angemessene Haltung gegenüber Beschäftigten wie auch den ihnen anvertrauten Kundinnen und Kunden einzunehmen. Es würde sie auch gegenüber den Kostenträgern stärken.
Hier erweist sich das BAG-Urteil zum Zweiten Weg als besonders hilfreich. Sollten die Kirchen diesen Weg aus Sorge vor Arbeitskämpfen vermieden haben, können sie hier künftig ganz beruhigt sein. Nach der neuen Rechtsprechung wird den Kirchen der Abschluss von Tarifverträgen auch künftig ohne Streikdruck gewährleistet, wenn sie ein angemessenes Schlichtungsverfahren vereinbart haben.
Nun könnten Sie mit Blick auf die Möglichkeit allgemein verbindlicher Tarifverträge fragen, warum denn nicht schon längst die zuständige Gewerkschaft diesen Weg beschritten und für solche verbindlichen Tarifregelungen gesorgt hat. Dann wären doch alle Konkurrenten und auch die kirchlichen Einrichtungen daran gebunden gewesen und Dumpinglöhne zum Beispiel im Pflegebereich generell unzulässig. Die Antwort ergibt sich aus den gesetzlichen Voraussetzungen der Allgemeinverbindlichkeit. Ein Tarifvertrag kann nur dann für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn schon zuvor mindestens 50 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von tarifgebundenen Arbeitgebern entsprechend behandelt wurden. Diese Anwendungsquote ist aber in keinem Tarifgebiet erreichbar, in dem die Kirchen stark vertreten sind, eben weil diese sich dem Abschluss von Tarifverträgen verweigern. Das gilt besonders im Pflegebereich. Man kann also sagen, dass die Kirchen hier nicht nur eine sozialstaatliche Gestaltungsmöglichkeit für sich selbst ungenutzt gelassen haben, sie verhinderten damit zugleich, dass andere sie nutzen können. Man kann nur hoffen, dass die neue Rechtsprechung endlich zu einem Umdenken bei den Kirchen führt.
Lassen Sie mich mit einer grundsätzlichen Überlegung schließen. Die neue Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit ihrer Respektierung des Leitbildes der Dienstgemeinschaft bietet den Kirchen die Chance, unter Wahrung ihrer Grundprinzipien zu einem fairen und sozialstaatskonformen Umgang mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie zu einer sinnvollen Kooperation mit den Gewerkschaften zu kommen und gleichzeitig eine bessere Ausgangsposition gegenüber den Kostenträgern zu erlangen. Gelingt ihnen das nicht und glauben sie auch künftig, nur mit Leiharbeit und Outsourcing, mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und Niedriglöhnen dem Konkurrenzdruck standhalten zu können, muss die Frage erlaubt sein, ob die Kirchen sich dann nicht besser aus diesem Dienstleistungsmarkt zurückziehen sollten. Das wäre für die Gesellschaft und deren Verhältnis zu den sozialen Dienstleistungen das richtige Signal, jedenfalls besser, als Einrichtungen zu betreiben, die sich kirchlich nennen, sich aber praktisch unchristlich verhalten müssen.

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Wir danken Frau Prof. Dr. Heide Pfarr für die freundliche Überlassung ihres Vortrags.

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