Sonntag, 23. Oktober 2016

Sonntagsnotizen: Caritas-Generalsekretär Georg Cremer über Armut in Deutschland

Prof. Cremers "Armut in Deutschland" ist eine anregende Lektüre. Wer  zunächst vermutet hat, dass Cremer nur seine bekannte Polemik gegen vermeintliche Empörungskulturen (FAZ: "Entpört euch!") und Armutskandalisierungsrituale (Süddeutsche: "Es wäre völlig abstrus, Kalkutta mit Deutschland zu vergleichen") vertieft, sieht sich bei der Lektüre dann doch positiv überrrascht.
Cremer treibt merklich auch die Konkurrenz um die mediale Aufmerksamkeit bei dieser Thematik um (die vornehmlich in den Fußnoten mit Ullrich Schneider, Christoph Butterwegge oder auch Oliver Nachtwey geführt wird), aber im Wesentlichen ist das Buch doch auch engagiertes, sachkundiges Plädoyer für eine nüchtern zu führende, handlungsbezogenere Debatte. Im Zentrum des Buches steht eher nicht die Kritik an kritischen Aspekten der öffentlichen Wahrnehmung von Armut (auch wenn es die Medien so suggerieren - Tagesspiegel: "Caritas-Chef warnt vor Skandalisierung"), sondern der analytische (und auch warmherzige) Blick auf die realen Verhältnisse und die Frage, wie die Verhältnisse verbessert werden könnten.
Cremer bezieht sich in wichtigen Passagen seines Buches auf sozialphilosophische Gedanken von Armartya Sen und legt hier den Fokus auf das Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit, auf das eine vernünftige Sozialpolitik nicht verzichten könne.
Zum 3. Weg der Kirchen schweigt das Buch (wenn davon die Rede ist "...erzeugt eine Fülle falscher Anreize, die zur Ausbeutung der Solidarität der anderen führen und damit dazu beitragen, die Solidaritätsbereitschaft zu untergraben", geht es nicht um den 3. Weg der Kirchen, sondern um ein "System sozialer Sicherung, das nicht auf Eigenverantwortung setzt").
Im Interview mit dem Deutschlandfunk im September 2016  beantwortet Cremer die Frage

Florin: Bezahlt die Caritas gerecht?
mit

Cremer: Die Caritas zahlt im Vergleich zu anderen Anbietern gut. Wir brauchen uns nicht zu verstecken gegenüber Tarifen, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erkämpft wurden. Insofern würde ich sagen, grundsätzlich ja, zahlt die Caritas gerecht.
 Der Witz ist natürlich der, dass die Caritas sich deswegen nicht vor dem Vergleich zu anderen Tarifen nicht zu verstecken braucht, weil sie diese, nämlich die von den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst gestalteten, erkämpften und durchgesetzten Tarifverträgen seit Jahrzehnten (in abnehmender Qualität) abkupfert. Das ist geliehene Gerechtikeit, keine Beteiligungsgerechtigkeit!

Cremer weiß es auch besser. Bei der Frage, wie die Situation der "hart und ganztags arbeitenden" Beschäftigten in den einfachen Dienstleistungsbereichen verbessert werden kann, kommt Cremer zum Ergebnis:

"Diese Menschen bewegen sich außerhalb des Radarschirms der Armutsstatistik, und dennoch ist die Existenz von hart und ganztags arbeitenden Personen, die gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten und dennoch an der Grenze des soziokulturellen Existenzminimums leben, eine Herausforderung an unser Gerechtigkeitsprinzip. Abhilfe wird nur möglich sein, wenn es den Gewerkschaften gelingt, in den expandierenden Dienstleistungssektoren stärker Fuß zu fassen, um einen weiteren Anstieg der Lohnungleichheit entgegenzuwirken." (S. 91)

c.

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