Dienstag, 25. Januar 2022

Verfehlter Befreiungsschlag - abschließend zur gestrigen Korrektur und zum gestrigen Coming Out von mehr als 100 Mitarbeitenden katholischer Einrichtungen

Primär kommentieren die Medien die gestrige Erklärung von Benedikt XVI. zum "Fall H.". Dazu vorab:
Die nun bestätigte Zustimmung des damaligen Erzbischofs Ratzinger zur Aufnahme von H. im Bistum ist auch seit März 2010 bekannt:
Aufgrund von Recherchen der SZ hatte das Münchner Ordinariat am Freitag bestätigt, dass mit Zustimmung des damaligen Erzbischofs und heutigen Papstes Joseph Ratzinger 1980 ein pädophiler Pfarrer in das Bistum kam, um eine Therapie zu beginnen.
(Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 15.03.2010).
Dessen letzter Einsatzort im Erzbistum - die Kurseelsorge in Bad Tölz - könnte auch zur besonderes intensiven "Durchleuchtung" dieses "Falles" in einem Sonderband des Gutachtens geführt haben, weil einer der Gutachter der Kanzlei WSW selbst aus Bad Tölz stammt.
Da blieb dann auch gar nichts anderes mehr übrig, als diese Kenntnis zur Aufnahme von H. zu bestätigen.

Dennoch hat die späte Erinnerung nicht ungeteilte Zustimmung in den Medien gefunden.

Der SPIEGEL meint:
»Ratzinger verstrickt sich immer mehr in seine Lügengebilde«
»Peinlich«, »Sünder«, »Unwahrheit«: Nach seiner korrigierten Aussage zum Münchner Missbrauchsgutachten reißt die Kritik an Papst Benedikt XVI. nicht ab. Ein alter Weggefährte fordert eine Entschuldigung bei den Opfern.
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Es sei ein Muster in der katholischen Kirche, immer nur das zuzugeben, was sich nicht mehr bestreiten lasse, sagte Katsch. »Damit trägt er dazu bei, dass man wirklich das Gefühl hat, man kann ihnen nichts glauben.« Viel besser wäre es, die Größe zu haben, den Fehler zuzugeben und dafür um Verzeihung zu bitten.
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Die Süddeutsche Zeitung kommentiert:
Katholische Kirche:
Verbrechen relativieren, Liebe sanktionieren

Missbrauchstäter werden geschützt, homosexuelle Paare rausgeschmissen. Dem hohen Klerus ist sein Wertesystem abhandengekommen - und es geht immer noch schlimmer.


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Nun ließ er mitteilen, bei der Bearbeitung seiner Stellungnahme sei ein redaktioneller Fehler passiert, das tue ihm leid. Der redaktionelle Fehler tut ihm also leid. Nicht aber die Tatsache, dass in seiner Verantwortung ein auffälliger Priester aufgenommen wurde, der dann viele weitere Kinder und Jugendliche missbrauchen konnte. Nein, dafür entschuldigt sich Benedikt XVI. nicht.
Fehler, Versehen, Verfehlung - mit solch euphemistischen Begriffen hantieren Kirchen-Verantwortliche, wenn es um Missbrauchstäter und den Umgang mit diesen geht. Dies ist umso bitterer, bedenkt man, mit welcher Härte der hohe Klerus andererseits Menschen verfolgt, die gegen kirchliche Lehre verstoßen. Zum Beispiel homosexuelle Mitarbeiter der Kirche, die ihre Identität nicht auf ewig verheimlichen und verstecken, sondern ausleben wollen - in verantwortungsvollen, langfristigen Partnerschaften. Lesbische Erzieherinnen oder schwule Pastoralreferenten riskieren bis heute ihren Job, wenn sie sich offen zu ihren Partnerinnen und Partnern bekennen, sie vielleicht gar heiraten wollen. Umso mutiger ist es, dass viele von ihnen jetzt offen zu ihrer Identität stehen und im Schutz der vielen auch Druck ausüben auf die Bischöfe, auf Rom.
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und auch die Tagesschau nimmt inzwischen das gesamte kirchliche Arbeitsrecht in den Blick:
Kreuz und queer - Gläubige outen sich
Stand: 24.01.2022 00:07 Uhr
Mehr als 100 nicht-heterosexuelle Mitarbeitende katholischer Einrichtungen gehen gemeinsam an die Öffentlichkeit. Sie wollen auf ein diskriminierendes System aufmerksam machen.
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Ein eigenes Arbeitsrecht für die Kirchen
Die evangelische und die katholische Kirche sind mit cirka 1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach dem öffentlichen Dienst der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Obwohl das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Benachteiligung aus Gründen der Religion und der sexuellen Identität verhindern soll, müssen viele katholische Angestellte um ihre Jobs fürchten. Denn für die Kirchen gilt in Deutschland, geregelt in der Verfassung, ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht, das ein eigenes Arbeitsrecht einschließt.Wer für die katholische Kirche oder katholische Einrichtungen arbeitet, muss mit seinem Arbeitsvertrag besonderen Bestimmungen zustimmen, die tief in die Privatsphäre eindringen und etwa queeren, also nicht heterosexuellen oder cis-geschlechtlichen, Menschen untersagen, offen zu ihrer Identität zu stehen. Eine gleichgeschlechtliche Heirat könnte in letzter Konsequenz zur Kündigung führen.

Ständige Angst um den Arbeitsplatz
Zum Teil werden Betroffene von Vorgesetzten offenbar unter Druck gesetzt. "Das läuft oft im kirchlichen System sehr subtil", erzählt Gemeindereferent und Mit-Initiator von "Out in Church", Jens Ehebrecht-Zumsande. Er erinnert sich an eine Situation, in der er einer Versetzung nicht zustimmte und der Verantwortliche ihm entgegnete, er in seiner "besonderen Lebensform" sollte besser tun, was von ihm erwartet werde, so Ehebrecht-Zumsande.Dass solche Erlebnisse durch das katholische Arbeitsrecht ermöglicht werden, sieht auch Thomas Schüller, Direktor des Instituts für Kanonisches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er berät immer wieder Angestellte, die mit dem kirchlichen Arbeitsrecht in Konflikt geraten.
In der Regel, solange es eben nicht öffentlich wird, toleriert man vieles. Man weiß darum, das sagt man auch den Leuten und sagt aber, in unserer Huld und Gnade dürft ihr bei uns weiterarbeiten. So lässt man die Leute aber immer in einer angstvollen Schwebe. Es besteht immer die Möglichkeit, wenn das bekannt wird, wenn man zum Beispiel dann standesamtlich heiratet, dann könnten wir ja, wenn wir wollten, zuschlagen.
Für queere Mitarbeitende gebe es in der katholischen Kirche und ihren Einrichtungen keine Rechtssicherheit.
Allerdings lässt das kirchliche Arbeitsrecht den Personalverantwortlichen so viel Spielraum, dass die Angestellten von einzelnen Entscheidungsträgern abhängig werden. Die Angst, entdeckt zu werden und im schlimmsten Fall ihren Beruf zu verlieren, ist für queere katholische Mitarbeitende allgegenwärtig. Viele schildern in den Interviews mit der ARD die daraus resultierenden psychischen Belastungen.
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Die Ampelkoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, mit den Kirchen zu prüfen, wie das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen angeglichen werden kann. Vorschreiben kann die Regierung das den Kirchen jedoch nicht - das kirchliche Selbstbestimmungsrecht wiegt höher. Verkündigungsnahe Tätigkeiten sollen bei der Reform ausgenommen bleiben. Der Religionslehrer wird seine Beziehung also auch in Zukunft weiter geheim halten müssen.
Und genau da müssen wir der Tagesschau widersprechen.
Das behauptete kirchliche "Selbstbestimmungsrecht" ist kein solches - es erlaubt nur die Selbstordnung und Selbstverwaltung der eigenen Angelegenheiten und das auch nur in den Schranken der für alle geltenden Gesetze. Es liegt also nur am Staat - wie die katholische Kirche in den Konkordatsverträgen akzeptiert hat - die Grenzen des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts enger oder weiter zu ziehen.
Und wieso ist das Schlafzimmer kirchlicher MitarbeiterInnen eine "eigene Angelegenheit" der Kirchen? Es ist ausschließlich und nur die Angelegenheit der betroffenen MitarbeiterInnen, die vielfach nicht einmal der Kirche angehören, und für die somit - ebenfalls nach den Konkordatsverträgen und einem schon vor Jahrzehnten ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts - der Kirche jede Rechtsetzungsbefugnis fehlt.

Wird der gestrige Tag - zum Fest "Pauli Bekehrung" - die Anleitung für den Wandel bringen?

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