Dienstag, 22. März 2016

Neunkirchen und die Folgen: kirchliche Sonderrechte hinterfragt

Stefan Sell, ver.di und wir haben (jeweils mit weiteren Hinweisen) auf die aktuelle Situation der ehemals städtischen "Klinik Neukirchen gGmbH" und den offenkundigen Missbrauch kirchlicher Sonderrechte hingewiesen.
Das Krankenhaus wurde von einem großen Sozialkonzerne aus dem kirchlichen Raum *) übernommen, der Stiftung Kreuznacher Diakonie - und mit dem Wechsel des Mehrheitsgesellschafters soll bruchlos - ohne Übergangsregelung - der Betriebsrat nicht mehr existent und das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) nicht mehr anwendbar sein, auch wenn noch keine MAV gewählt wurde.
Unternehmensmitbestimmung, Wirtschaftsausschuss, Erzwingbarer Sozialplan, Nachteilsausgleich ... alle diese Regelungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz sollen nicht mehr gelten; und weil die EU-Richtlinie 2001/23/EG ebenso im Betriebsverfassungsgesetz umgesetzt wurde, sollen die Regelungen zu Übergangs- bzw. Restmandaten des Betriebsrates auch nicht angewendet werden. Gerade während der Umstrukturierung der Einrichtung wären die Beschäftigen - entgegen den Vorgaben der EU-Richtlinie - damit ohne den Schutz einer betrieblichen Interessenvertretung.

In Kenntnis dieses erneuten Versuchs, die Mitbestimmungs- und Schutzrechte von Beschäftigten durch Flucht in das kirchliche Arbeitsrecht zu umgehen, hat der Gewerkschaftsrat von ver.di **) unter Beratung von schon beim Bundeskongress vorgelegten Anträgen in seiner aktuellen Sitzung beschlossen ***):
"ver.di setzt sich nachhaltig dafür ein, dass der § 118 Betriebsverfassungsgesetz (....) gestrichen wird"
(Antrag C 005 aus dem 4. ver.di - Bundeskongress)
sowie etwas konkreter
"ver.di setzt sich auf allen politischen Ebenen dafür ein, dass die Rechtstellung und vor allem die Mitbestimmungsrechte der betrieblichen Interessenvertretungen (BRe, PRe, MAVen etc) verbessert und gestärkt werden Das BetrVG und die Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder müssen entsprechend novelliert werden.

Erforderlich ist unter anderem:
  • Ein verbesserter und frühzeitiger Kündigungsschutz bei der Gründung von Betriebsräten / Personalräten und der Arbeit aktiver Betriebsräte/Personalräte, zum Schutz vor der derzeit häufigen rechswidrigen Behinderung.
  • Die Mitbestimmungsrechte beim Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen/- Arbeitnehmern und Werkverträgen müssen verbessert werden, sowohl im Rahmen der Personalplanung, das heißt bei der Entscheidung über den Einsatz und die Zahl der eingesetzten Beschäftigten, als auch zum Schutz der jeweiligen Beschäftigten.
  • Im öffentlichen Dienst müssen unter anderem Mitbestimmungslücken geschlossen werden. Informationsrechte für Beschäftigte erweitert und die Organisation sowie Arbeitsfähigkeit der Personalräte verbessert werden.
  • In allen Tendenzbetrieben muss eine Gleichstellung der Mitbestimmungsrechte erfolgen, indem § 118 Abs. 1 BetrVG gestrichen wird. Ebenso ist die Anwendung der Unternehmensmitbestimmung zu verwirklichen. Für die Wohlfahrtseinrichtungen von Religionsgemeinschaften muss die Gleichstellung der Mitbestimmungsrechte durch Streichung des § 118 Abs 2 BetrVG erfolgen. Auch die Wohlfahrtsverbände von Religionsgemeinschaften müssen die Unternehmensmitbestimmung anwenden.
  • ...
    (Anträge C 009 und C 009-1 aus dem 4. ver.di - Bundeskonress)
    Auch der - noch vor der Eskalation von Neunkirchen - erarbeitete Abschlussbericht "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" der Bundeskommission der Grünen nimmt den Missbrauch kirchlicher Sonderrechte ins Visier.
    Auf den Seiten 21 bis 25 finden sich die Schwerpunkte "Loyalitätspflichten" und "Verweigerung von Tarifverträgen" (Dritter Weg). Auf Seite 24 / 25 wird abschließend festgestellt:
    Die Kommission sieht dringenden Reformbedarf hinsichtlich des kirchlichen Arbeitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland.

    Koalitionsfreiheit und Streikrecht sind als soziale Grundrechte für Arbeitnehmer auch in Betrieben in kirchlicher Trägerschaft zu gewährleisten. Sie sind mit einem Tendenzschutz und dem kirchlichen Recht auf Selbstordnung und Selbstverwaltung vereinbar.

    Der Regelungsgehalt von § 112 Personalvertretungsgesetz und §118 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz muss geändert werden.

    Anmerkungen:
    *)
    Die christlichen Kirchen sind mit ihren Einrichtungen, nach dem öffentlichen Dienst, mit etwa 1,3 Millionen Beschäftigten die größten Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland.
    Ob gewerblich tätige Sozialkonzerne in kirchlichem Eigentum mit ihren Unternehmungen die Befreiung für "caritative Einrichtungen" aus § 118 Abs. 2 BetrVG zurecht beanspruchen, wird nicht nur von uns regelmäßig hinterfragt.
    Denn "caritativ" heißt uneigennützig, selbstlos, ohne die Absicht der Gewinnerzielung. Und dass ein Krankenhaus nicht nur selbstlos, sondern nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen als gewerbliche Einrichtung geführt werden kann, sollte hinlänglich bekannt sein.
    Die katholischen Bischöfe haben das mit der Neufassung "Grundordnung des kirchlichen Dienstes" berücksichtigt, indem sie Einrichtungen, die mit Gewinnorientierung betrieben werden, vom Geltungsbereich der Grundordnung ausgeschlossen haben (Art. 2 Abs. 4).
    Damit ist auch einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, Beschluss vom 22. Oktober 2014 - 2 BvR 661/12, Rd.Nr. 93 und 94 entsprochen, wonach insbesondere Einrichtungen, die "am Markt teilnehmen", nicht vom "Kirchenprivileg" profitieren können.

    **)
    Der Gewerkschaftsrat ist zwischen den Bundeskongressen das höchste Beschlussgremium von ver.di

    ***) Vorabinformation, verbindlich ist der von ver.di freigegebene Text

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