Samstag, 16. September 2023

Zur Gründung der Diakonie vor 175 Jahren

hat Heribert Prandl eine Kolumne in der Süddeutschen Zeitung geschrieben:
Die Gründung der Diakonie vor 175 Jahren war eine sozialpolitische Großtat. Warum die Gesellschaft immer wieder solche Vorbilder braucht.

Man kann Geschichte als Herrschaftsgeschichte beschreiben, als die Geschichte von Regenten und Regierungen, Parteien und Ideologien, als die Geschichte von Kriegen und Friedensschlüssen, als Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Man kann Geschichte aber auch schreiben als die Geschichte von Vorbildern. Das ist nicht üblich, aber es lohnt sich. Vorbilder sind Leute, die sich nicht abfinden mit dem Satz: Ja, das ist schlimm, aber alleine kann man nichts bewirken. Sie beweisen dann, dass dieser Satz nicht stimmt, dass man auch als Einzelner handeln und andere zum Handeln anstiften, dass man Not und Elend mindern kann. Solche Leute sind wichtig für die Gesellschaft. Sie sind nicht fehlerfrei, manchmal nerven sie in ihrem Eifer - aber sie sind Weichensteller für eine bessere Zukunft.
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Johann Hinrich Wichern ... war Theologe, Pädagoge und Utopist, ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen die Armut. Er hat vor 175 Jahren, im September 1848, mit einer aufrüttelnden Stegreifrede beim protestantischen Kirchentag in der Schlosskirche von Wittenberg das schlafende soziale Gewissen seiner Kirche geweckt.
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Es war wirksame Nothilfe in der Überzeugung, dass der Glaube als rettende Tat gelebt werden musss. Es war dies das dritte 1848: Das erste 1848 war die bürgerliche Revolution; das zweite 1848 war die Drucklegung des Kommunistischen Manifests; das dritte 1848 war die Gründung der Diakonie. Auf der katholischen Seite gab es als Bahnbrecher der Sozialfürsorge den Gesellenvater Adolf Kolping und, ein paar Jahrzehnte später, den Caritas-Gründer Lorenz Werthmann.

Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es. Das ist ein vorbildlicher Satz. Frauen wie Marie Juchacz und Rosa Parks haben danach gehandelt. Juchacz war die erste Frau, die in einem deutschen Parlament eine Rede hielt, das war im Februar 1919, in der Nationalversammlung in Weimar; wenig später hat sie die Arbeiterwohlfahrt gegründet. Rosa Parks war die Frau, die 1955 in Montgomery, Alabama, festgenommen wurde, weil sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen; ihr Widerstand wurde zu einem Auslöser der US-Bürgerrechtsbewegung.
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... außer man tut es! Der Satz stammt von Erich Kästner, er gilt global und er gilt heute für Sozialunternehmer wie den Wirtschaftsprofessor Muhammad Yunus aus Bangladesch, der mit der genossenschaftlich organisierten Grameen Bank das Finanzwesen auf den Kopf gestellt hat und zum Banker der Armen wurde. Mit seinem Engagement hat er Millionen mittellosen Frauen ein Auskommen verschafft.
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"Ich kann es nicht ertragen, nur zuschauen zu können": Der Satz stammt von Rupert Neudeck - auch er einer, der gezeigt hat, was ein Einzelner vermag. Er baute das Komitee Cap Anamur auf; mit einem zum Hospitalschiff umgebauten Frachter rettete er elftausend vietnamesische Flüchtlinge; sein Schiff wurde zum Urbild für die heutige Seenotrettung im Mittelmeer.
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So sehen Vorbilder aus. Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es. Das war 1848 so, und so ist es 2023.
dem ist nichts hinzu zu fügen - ausser vielleicht, dass die Initiative des obrigkeitstreuen Wichern gegen die sich formierende Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie gerichtet war.
So revolutionär Wicherns Sozialreformen innerhalb der Kirche und auch für die Gesellschaft waren, so konservativ und rückwärtsgewandt waren sein Staats- und Herrschaftsverständnis.
Die Ideen der Erweckungsbewegung hatten einen wichtigen Einfluss und ließen ihn zwar die Armut und Verelendung sehen, daraus aber sehr eigene Schlüsse ziehen. Für ihn waren die Einflüsse des Kommunismus und der Sozialdemokratie, die er als gottlos und gegen den Staat orientiert ansah, für diese Verelendung mitverantwortlich. Er sah diese Verelendungen nicht als Folge der gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Zeit an, sondern als Mangel an Glaube, zu dem eben auch die Revolution und die Arbeiterbewegung beitrugen.
Quelle: NDR
Hier liegen vielleicht auch die tieferen Wurzeln für die ideologisch aus dem Nationalsozialismus (Betriebs- und Volksgemeinschaft) entnommene "Dienstgemeinschaft" und die diakonischer Fremdelei mit den Gewerkschaften.
Da heute auch die Diakonie mitten in der Gesellschaft stehen möchte und als Bestandteil der Gesellschaft selbstverständlich auch die Regeln einhalten muss, die für die Gesellschaft ingesamt gelten, sollten diese altbackenen Beweggründe auch aufgearbeitet werden. Dazu gehört der Verzicht auf Sonderrechte, die zum Lohndumping verführen.

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