Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-414/16 Vera Egenberger / Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. zitiert aus der Pressemitteilung des Gerichtshofes der Europäischen Union (Auszug): |
Nach Ansicht von Generalanwalt Tanchev unterliegen berufliche Anforderungen, die von religiösen Organisationen gestellt werden, der gerichtlichen Überprüfung, wenn gegen sie der Vorwurf einer rechtswidrigen Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung erhoben wird
Die nationalen Gerichte sind verpflichtet, das Recht der Organisation auf Autonomie und Selbstbestimmung gegen das Recht des Arbeitnehmers oder Stellenbewerbers abzuwägen, nicht wegen der Religion oder der Weltanschauung diskriminiert zu werden. Generalanwalt Tanchev vertritt erstens die Auffassung, dass ein Arbeitgeber wie das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung – bzw. die Kirche für ihn – nicht verbindlich selbst bestimmen könne, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstelle.
Zwar müsse die gerichtliche Überprüfung des Ethos der Kirche begrenzt sein4, doch heiße dies nicht, dass das Gericht eines Mitgliedstaats der Verpflichtung enthoben wäre, die fraglichen Tätigkeiten zu würdigen, um zu klären, ob die Religion oder Weltanschauung einer Person eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle.
Zweitens ist der Generalanwalt der Ansicht, das Bundesarbeitsgericht habe bei der Prüfung, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion bei bestimmten Tätigkeiten nach der Art der Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung und angesichts des Ethos der Organisation eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung sei, Folgendes zu berücksichtigen:
- Das Recht religiöser Organisationen auf Autonomie und Selbstbestimmung sei im Unionsrecht anerkannt und geschützt. Die Richtlinie und insbesondere die dortige Bezugnahme auf das „Ethos" religiöser Organisationen5 seien im Einklang mit diesem Grundrecht auszulegen.
- Die Mitgliedstaaten hätten einen weiten, aber keinen unbegrenzten Spielraum in Bezug darauf, bei welchen beruflichen Tätigkeiten nach ihrer Art oder den Umständen ihrer Ausübung die Religion oder Weltanschauung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung anzusehen sei.
- Die Richtlinie sei so umzusetzen, dass das von den einzelnen Mitgliedstaaten gewählte Modell für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften und dem Staat geachtet und nicht beeinträchtigt werde.
- Das Wort „gerechtfertigt" in der Richtlinie mache eine Prüfung erforderlich, ob berufliche Anforderungen, die mit einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung verbunden seien, in angemessener Weise an den Schutz des Rechts des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung auf Autonomie und Selbstbestimmung angepasst seien, dergestalt, dass sie zur Erreichung dieses Ziels geeignet seien.
- Die Worte „wesentliche, rechtmäßige" in der Richtlinie erforderten eine Analyse der Nähe der fraglichen Tätigkeiten zum Verkündigungsauftrag des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung.
- Die Auswirkungen ‒ im Sinne der Verhältnismäßigkeit ‒ auf das rechtmäßige Ziel, die praktische Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung sicherzustellen, müssten gegen das Recht des Evangelischen
Drittens weist der Generalanwalt darauf hin, dass die vorliegende Sache einen Rechtsstreit zwischen zwei privaten Parteien betreffe, was bedeute, dass die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Befugnisse alles tun müssten, um das einschlägige nationale Recht im Einklang mit der Richtlinie auszulegen. Sei dies dem nationalen Gericht jedoch aufgrund eines klaren Konflikts zwischen der Richtlinie und den einschlägigen nationalen Bestimmungen unmöglich, finde diese Verpflichtung keine Anwendung mehr.
...
(Zitiert aus der Pressemitteilung des EuGH https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2017-11/cp170117de.pdf mit folgenden Hinweisen):
HINWEIS: Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Nachtrag:
Inzwischen liegt eine erste Reaktion vor.
"Erfreulich für sie sei, dass der Generalanwalt das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen grundsätzlich anerkannt habe, sagte der Jura-Professor dem Evangelischen Pressedienst (epd). Problematisch für die Kirchen sei aber, dass das bisherige Verlangen nach Kirchenmitgliedschaft - "nämlich unterschiedslos für alle Berufstätigkeiten" - so nicht mehr zu halten sein könnte." wird der Bochumer Arbeitsrechtlers Jacob Joussen von evangelisch.de zitiert. ("klick")
Auch das Domradio zitiert bisher nur epd und Joussen. (*klick*)
Auf Reaktionen anderer Beobachter sind wir gespannt, zumal die Pressemitteilung ausdrücklich darauf hinweist, dass "dass die Richtlinie nicht zwischen Einstellung und Entlassung unterscheide" - und da liegt dem EuGH ja ein Fall aus der katholischen Kirche zur Kündigung vor. Prof. Dr. Hermann Reichold hatte diese Vorlage durch das BAG an den EuGH im Juli letzten Jahres mit dem Satz "BAG widersetzt sich dem BVerfG" kommentiert.
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