Sonntag, 15. November 2015

Ein etwas anderer Wochenrückblick

Mit einem etwas anderen Wochenrückblick möchten wir diese neue Woche beginnen. Er steht - gerade in diesen Tagen, in denen sich zunehmend mörderischer Extremismus zeigt, in einem etwas historischen Kontext - nach dem Motto:
„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt/verurteilt, sie zu wiederholen.“
George Santayana. 1905.


1. Montag, 09. November 2015:
Am 9. November 1848 wurde der Abgeordnete Robert Blum der Frankfurter Nationalversammlung erschossen - und die "Märzrevolution" in den Staaten des Deutschen Bundes damit zu Grabe getragen.
Am 9. November 1918 begann die Revolution gegen die Monarchie mit einem Generalstreik der größeren Betriebe, gab Reichskanzler Prinz Maximilian von Baden die Abdankung des Kaisers bekannt und wurde die Republik ausgerufen.
Am 9. November 1923 scheiterte Adolf Hitlers Versuch, durch seinen "Marsch auf die Feldherrnhalle" die Regierung von Bayern zu stürzen.
Der 9. November 1938 markiert das Datum, an dem von München aus der Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung eingeleitet wurde ("Reichsprogromnacht").
Am 9. November 1989 wurde das Ende der deutschen Teilung eingeläutet.

Tausende von Münchnern, auch Gewerkschafter und Vertreter vieler Religionsgemeinschaften wie insbesondere der christlichen Kirchen und der jüdischen und muslimischen Gemeinden folgten am 9. November dem Aufruf von "München ist bunt" und zeigten Geschichtsbewusstsein, ein Bekenntnis zu Toleranz und einer weltoffenen Gesellschaft sowie christlichen, islamischen und jüdischen Tugenden wie Solidarität mit Flüchtlingen, insbesondere denen, die vor dem Terror der IS fliehen, mit Opfern von Terror und Verfolgung - und blockierten den Demonstrationszug der nur etwa 100 "Pegida-Anhänger".





2. Ausstellung im Münchner Gewerkschaftshaus:
Da trifft es sich gut, dass derzeit im Münchner Gewerkschaftshaus vor dem Großen Saal eine Ausstellung über die in der Nazi-Zeit verfolgten Gewerkschafter ist.


Der erste Gewerkschafter, der in der Reihe vom "Salettl" zum Ausgang gewürdigt wird, ist Heinrich Hirtsiefer, seit 1920 Verbandssekretär des christlich-sozialen Metallarbeiterverbandes. Am 11. September 1933 durch SA und SS in "Schutzhaft" genommen, und am 15. Mai 1941 infolge der KZ-Haft verstorben, zeigt seine Vita exemplarisch den Kampf von Ideologen gegen Gewerkschafter jeglicher Couleur.





3. Veröffentlichung der Tagebücher von Erzbischof Faulhaber
Katholische Kirche in den dunklen Jahren:
Zeitgleich zur Ausstellung hat die Erzdiözese München und Freising vor wenigen Tagen (am 28. Oktober) die ersten Tagebücher von Erzbischof Faulhaber online gestellt (www.faulhaber-edition.de). Wichtige Jahre und Monate wie die Einträge zu den November-Monaten 1923 und 1938 fehlen noch - aber die ersten Veröffentlichungen vom ersten Halbjahr 1933 (den Monaten um die Machtübernahme Hitlers am 30.01.1933) erlauben schon interessante Einblicke in die Erlebniswelt des Münchener Erzbischofs.
Unter dem 11. bis 14. Mai 1933 wird im Tagebuch vermerkt:
Sonntag, 8.00 Uhr halte ich Predigt über kirchliche und Volksgemeinschaft
Münchens Erzbischof hat sich also schon kurz nach der Zerschlagung der Gewerkschaften (Besetzung der Gewerkschaftshäuser am 2. Mai 1933) und der Gründung der u.a. in 18 "Reichsbetriebsgemeinschaften" gegliederten Deutsche Arbeitsfront (DAF) als "Ersatzorganisation" am 10. Mai 1933 mit der Problematik auseinander gesetzt, dass die "NS-Volksgemeinschaft" an die Stelle der "Gemeinschaft der Kirche" treten sollte. Faulhaber, der in seinen Beiblättern zu den Tagebüchern diese Tage als
politisch hoch erregte Zeit, weil Hitlerdiktatur neu begonnen.
bezeichnet, widmet aber diesem politischen Geschehen und den Angriffen gegenüber den Arbeitnehmerorganisationen nur wenige Zeilen. Jedenfalls scheinen die bisher veröffentlichten Texte zu diesem Zeitpunkt noch kein besonderes Interesse an den Übergriffen gegen Gewerkschaften und Gewerkschafter zu belegen. Faulhabers Engagement begann möglicherweise erst, als immer mehr Kleriker unter Druck gerieten und im Juni 1933 der Gottesdienst zum Gesellentag (Kolping?) nicht stattfinden konnte (vgl. Beiblätter zum Gegenbesuch bei Wagner, 13.6.33, 11.30 - 12.15 Uhr-).

Unter dem 20. Juli 1933 vermerkt Faulhaber lediglich das Faktum, das Reichskonkordat sei unterzeichnet worden. Allerdings enthält bereits der Tagebucheintrag vom 18. Juli einen bemerkenswerten Hinweis:
Dienstag, 18. Juli. In diesen Tagen je sechs Stunden im Archiv, nicht ins Freie, bloß Abend, 19.00 Uhr – 19.30 Uhr Brevier im Hof.

Monsignore Panico – Ein richtiges Miramur, unterzeichnet: von Pizzardo Verhandlungen über Gehälter der Bischöfe, überhaupt materie concordatarie, würde nicht zwischen Bischof und Regierung, sondern zwischen Vatican und Regierung behandelt. Wenn Erzbischof Bamberg beauftragt worden wäre, wegen der 2 oder 5 % zu Siebert zu gehen.

15.00 Uhr, Elisabeth Schmidt–Pauli – hatte schwer Kopfweh wieder – soll nicht zu viel bitten im Braunen Haus für mich, sie klagt: Daß ich unsicher sei und hinter Kerkermauern, ob es dunkel sei.
Tatsächlich hatte vor dem Reichskonkordat die Verfolgung von Gewerkschaften wie auch der katholischen Kirche begonnen (vgl. Repgen "Zur Vatikanischen Strategie beim Reichskonkordat" im Vierteljahresheft für Zeitgeschichte Jg. 81 - 1983 - Heft 3) - und das Reichskonkordat brachte für die Kirche eine gewisse Sicherheit, wie der Tagebucheintrag vom 28. Juli zeigt:
Freitag, 28. Juli. Nach der Sitzung Abtprimas: Unsere Lage duch das Concordat wesentlich beruhigt. Bei uns in Bayern viele Geistliche in Haft, durch die Kommissare Einfluß genommen. Unsere Vereine sind zu klein, um das Große zu scheuen, meine, das Concordat habe gar nichts zu tun, als die Vereine zu schützen. Über Abt Schachleiter. Siehe Besonderes

....
Über unsere politische Lage. Durch Concordat jetzt Rechtsboden. Unsere Auseinandersetzung mit den Ministerien. Er meint, ich sei bekannt, daß senza paura. Die Provinziale aus der Schweiz wollten nicht kommen, aus Furcht, weil Pater Ingbert ihnen erzählt hatte. Er solle ruhig zurückkehren, außer er brauchte riposo.

Nachmittag in Eile unsere Gutachtung zum Gesetz über christlichen Religionsunterricht.
Secretär schreibt in der Nacht hinein
Die Ausführungen im "Beiblatt vom 21.-28. Juli 1933 " zeigen, wie sehr der Umgang mit den Nationalsozialisten auch innerhalb der katholischen Kirche umstritten war, und auch das Beiblatt vom 29. August 1933/7. Juni 1934 zeigt, wie auch innerhalb der Bischöfe um die richtige Reaktion auf den NS-Terror gerungen wurde.
...
Plenarkonferenz 4.-7. Montag - Donnerstag Juni 1934
... Zeit sehr ernst, die Verfolgung in vollem Gange, die Post unter Kontrolle - der Saal überprüft, ob nicht ein Mikrophon und vor den Türen wachen zwei Seminaristen. Fast alle schon zu Tisch. Es fehlen: Schulte ([...], wollte am 2. Tag kommen, unmöglich), Aachen, Passau, Regensburg, Augsburg, für die ich unterschreibe. Hirtenbrief von Galen abgelehnt, ich soll mit ihm und Prälat David ausfertigen, werden aber nicht ganz fertig (Paderborn). Mein Antrag, einen Brief an Hitler schreiben, angenommen, dagegen Saar abgelehnt....


Bedauerlicherweise scheint es auch immer wieder Versuche kirchlicher Würdenträger gegeben zu haben, sich mit dem Regime zu arrangieren. So wurde Anfang 1935 die "Doppelmitgliedschaft" von Mitgliedern der konfessionellen Arbeiter- und Gesellenvereine mit der deutschen Arbeitsfront, dem nach Vorbild des italienischem Faschismus gebildeten "Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber" verboten - was am 3. Mai 1934 zu einem bemerkenswerten Protestschreiben "im Namen des gesamten deutschen Episkopats" an den Reichsinnenminister Frick führte (Quelle: Vera Bücker u.a. "Nikolaus Groß - Arbeiterführer - Widerstandskämpfer - Glaubenszeuge: Wie sollen wir vor Gott und unserem Volk bestehen?" S. 144, Hrsg. im Auftrag des Bistums Essen).


Es wird spannend, die Bemerkungen Faulhabers aus dem Jahr 1937 nachzulesen, dem Jahr, in dem im März von Papst Pius XI durch die Enzyklika "Mit brennender Sorge" klare Worte "An die Erzbischöfe und Bischöfe Deutschlands ... über die Lage der katholischen Kirchen im Deutschen Reich" richtete.

Aber eine Erkenntnis lässt sich bereits jetzt gewinnen: die Kirche befand sich zwischen zwei Ideologien, wie schon die beiden Enzykliken von Papst Pius XI (Neben "Mit brennender Sorge" auch die Enzyklika "Divini redemptoris", letztere vor dem Hintergrund, dass im spanischen Bürgerkrieg zwischen 1931 und 1939 fast 7.000 Geistliche getötet wurden) vom März 1937 deutlich machen.
Tatsächlich war die Kirche in Deutschland durch faschistische Umtriebe wesentlich mehr bedroht als durch "bolschewistische Umtriebe". Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten waren vielmehr selbst massiven Repressalien und Bedrohungen ausgesetzt, und kirchliche Würdenträger scheinen dies zumindest anfänglich nur "am Rande" zur Kenntnis genommen zu haben.
Die in der Würzburger Synode (Beschluss Kirche und Arbeiterschaft) beklagte Entfremdung von Kirche und Gewerkschaften (Arbeitern) scheint schon in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts bestanden zu haben. Erst diese Entfremdung hat es den Nationalsozialisten ermöglicht, Kirche und Gewerkschaften gegeneinander auszuspielen ("Wir müssen wünschen und beten, infolgedessen auch mitarbeiten, dass die nationale Regierung ihre Ziele erreicht. Der Bolschewismus, der nach ihr kommen würde, würde die Kirche am ersten treffen" - zitiert anlässlich der Audienz von Staatsminister Wagner am Donnerstag, 8.6.33, 11.00 - 12.15 Uhr- bei Bischof Faulhaber) und damit erst die Machtübernahme der NS-Diktatur zu festigen.



4. Nacht zum 14.11.2015:
Die Welt blickt entsetzt nach Paris. Sechs Orte, mindestens acht Attentäter, mehr als 120 Tote und Hunderte Verletzte. Das ist kalter, brutaler Mord im Namen einer verblendeten Ideologie, ein Anschlag gegen den Islam und gegen die Werte Europas, die ein Zusammenleben aller Menschen trotz unterschiedlicher Ideale ermöglichen. Wir dürfen aber nicht nur nach Paris oder Syrien schauen. "Das, was wir in Paris erlebt haben, ist in Aleppo Alltag", sagte EU-Parlamentspräsident Schulz im Tagesschau-Interview.
Auch Brandanschläge auf bewohnte Flüchtlingsheime sind nach meiner Meinung Ausdruck einer mörderischen Verblendung, und stehen in der mörderischen Tradition des 9. November 1938. Es ist gut, dass heute nahezu alle gesellschaftlichen Gruppierungen gemeinsam für Flüchtlinge und Verfolgte eintreten. Das macht Hoffnung. Gerade in Zeiten, in denen immer mehr extremistische Stimmen laut werden, und terroristische Aktionen zunehmen, gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, sich zu unseren gemeinsamen, originären Werten zu bekennen. Dazu gehört Nächstenliebe, Menschenwürde, Solidarität mit Armen und Verzweifelten, Respekt und Toleranz:
„Liberté, Égalité, Fraternité!"
...
En conséquence, l’Assemblée nationale reconnaît et déclare, en présence et sous les auspices de l’Être Suprême, les droits suivants de l’homme et du citoyen.

Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.

Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’oppression.

...
Auszug aus der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen) vom 26. August 1789

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen




Ihr könnt Eure Kommentare vollständig anonym abgeben. Wählt dazu bei "Kommentar schreiben als..." die Option "anonym". Wenn Ihr unter einem Pseudonym schreiben wollt, wählt die Option "Name/URL". Die Eingabe einer URL (Internet-Adresse) ist dabei nicht nötig.

Wir freuen uns, wenn Ihr statt "Anonym" die Möglichkeit des Kommentierens unter Pseudonym wählt. Das Kommentieren und Diskutieren unter Pseudonym erleichtert das Austauschen der Argumente unter den einzelnen Benutzern.