Mittwoch, 16. Februar 2022

Entlarvt der neue Pflegemindestlohn die Caritas-Vergütungen ? Oder: Steigender Pflegemindestlohn löst Grundproblem in der Altenpflege nicht (2)

unserem gestrigen Blogbeitrag wollen wir heute einen weiteren Bericht nachsenden. 
Wir beziehen nun auch den Blogbeitrag vom 8. Februar 2022 von Stefan Sell mit ein. 
Unter der Überschrift:
Noch nicht einmal jede dritte Pflegeeinrichtung mit irgendeiner „Tarifbindung“. Erste Zahlen aus einer weitgehend tariflosen Zone – und harte Euro-Beträge einer „Lohnbindung durch die Hintertür“ ab dem Herbst 2022
(Quelle)
schreibt Sell:
Mit der bundesweiten Veröffentlichung von Daten zur tariflichen Bezahlung in der Langzeitpflege liefern die Landesverbände der Pflegekassen erstmals einen detaillierten Überblick über das Ausmaß der Tarifbindung von Pflegeeinrichtungen in Deutschland. Das berichtet der AOK-Bundesverband und verweist auf die Veröffentlichung der Tarifübersicht durch die Landesverbände der Pflegekassen.
...
in dieser Tarifübersicht sind nun auch Fragen geklärt, die wir aus dem gestern zitierten Bericht der FAZ noch offen lassen mussten, als da sind die Länderindividuellen Tarif-Informationen und die Frage, wie das regional übliche Entgeltniveau berechnet wird. Wir zitieren nun nochmals Prof. Sell:
„Gemeinsam mit den Tarifpartnern wollen wir dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen.“ So hieß es damals im Koalitionsvertrag, dafür wolle man die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen.

Aufgrund der komplizierten Rahmenbedingungen, darunter vor allem der Stellenwert der kirchlich gebundenen Pflegeeinrichtungen und dem Beharren der Kirchen auf ihre Sonderrechte im Arbeitsrecht, war und ist das ein schwieriges Unterfangen. Der damalige (und heutige) Bundesarbeitsminister wollte dennoch den holprigen Weg hin zu einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag in der Alten- bzw. Langzeitpflege gehen – und viele werden sich mit Blick auf das vergangene Jahr daran erinnern, dass dieses Vorhaben dann krachend gescheitert ist. Nicht am erwartbaren Widerstand der privatgewerblichen Träger von Pflegeheimen, die vehement Front gemacht haben gegen das Ansinnen einer flächendeckenden Tarifbindung der Branche, sondern am Veto der Caritas (dazu ausführlich der Beitrag "Was für ein unheiliges Desaster: Die katholische Caritas blockiert den Weg zu einem allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag für die Altenpflege, die Verbände der privatgewerblichen Arbeitgeber freuen sich und die Pflegekräfte ganz unten bleiben unten" vom 7. März 2021).
und
Bis zum 31. August 2022 sind alle Versorgungsverträge, die mit Pflegeeinrichtungen vor dem 1. September 2022 abgeschlossen wurden, an die oben beschriebenen gesetzlichen Vorgaben anzupassen. Daraus resultiert für alle Pflegeeinrichtungen, dass sie spätestens bis zum 28. Februar 2022 mitteilen müssen, an welchen Tarifvertrag oder an welche kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen sie gebunden oder welcher Tarifvertrag oder welche kirchenarbeitsrechtliche Regelung für die Zahlung der Entlohnung für sie maßgebend sind.

Interessant und besonders relevant angesichts ihrer Größenordnung sind nun vor allem die nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen, die nach den neuen gesetzlichen Bestimmungen, wenn sie denn weiterhin irgendeine der zulässigen Tarifbindungen scheuen, diese Auflage bekommen: Alle Pflegeeinrichtungen, die noch nicht nach Tarif bezahlen, sind verpflichtet, ihren Beschäftigen ab 1. September 2022 ebenfalls Löhne auf Basis mindestens eines im jeweiligen Bundesland angewandten Tarifvertrages zu zahlen. Alternativ können sie sich bei der Bezahlung ihrer Beschäftigten an der in der Erhebung ermittelten durchschnittlichen Entlohnung für die jeweiligen Beschäftigtengruppen in ihrem Bundesland („regional übliches Entgeltniveau“) orientieren. Genau das haben die Landesverbände der Pflegekassen nun ermittelt.

Bevor wir nun mit dem Tarifvergleich weiter machen - ein Einwurf:
Die kirchlichen Regelungen (AVR = Allgemeine VertragsRichtlinie) sind keine Tarifverträge und stehen diesen auch nicht gleich. Es handelt sich vielmehr um "Allgemeine Geschäftsbedingungen" - also einer ähnlichen Rechtsqualität wie "das Kleingedruckte beim Staubsaugerkauf" (ständige Höchstrichterliche Rechtsprechung, z.B. BAG, Urteil vom 17. 11. 2005 – 6 AZR 160/05 (lexetius.com/2005,3737) oder LANDESARBEITSGERICHT NÜRNBERG Az. 4 Sa 96/1 vom 20.08.2014 m.w.N.)
Dementsprechend sind auch die einschlägigen Bestimmungen der §§ 305 ff BGB anzuwenden. Dazu gehört auch der Vorrang der Individualabrede nach § 305 b BGB.
Ein kirchlicher Arbeitgeber kann (daher) in den durch das staatliche Arbeitsrecht gesetzten Grenzen wirksam Arbeitsverträge abschließen, die keine oder nur eine eingeschränkte Bezugnahme auf kirchliche Arbeitsvertragsregelungen vorsehen.
(BAG-Urteil vom 24.05.2018 - 6 AZR 308/17).
Das gilt - im Gegensatz zum Tarifvertrag - auch für Regelungen, die zu Lasten der Arbeitnehmer individuell von den AVR abweichen. Daher können Allgemeine Geschäftsbedingungen - auch die der Kirchen - nicht als "verbindliche kirchliche Arbeitsrechtsregelung" behandelt werden.


Nun aber zum Tarifvergleich:
Sell nimmt als Beispiel das "wirklich schöne Bundesland Rheinland-Pfalz" aus der "amtlichen Tabelle", das die Bistümer Speyer, Mainz und Trier (also die "Region Mitte") umfasst:
➔ Für Pflege- und Betreuungskräfte ohne eine mindestens einjährige Ausbildung (Beschäftigtengruppe A) liegt der Mindestlohn ab April 2022 bei 12,55 Euro. Das „regional übliche *) Entgeltniveau“ für diese Beschäftigtengruppe beträgt ausweislich der bundesweiten Übersicht der Pflegekassen bei 16,46 Euro. Das wären dann ab September 2022 immerhin 31,2 Prozent mehr.
➔ Für die Beschäftigtengruppe B (Pflege- und Betreuungskräfte mit mindestens einjährige Ausbildung): Der Mindestlohn ab April 2022: 13,20 Euro. Das „regional übliche *) Entgeltniveau“ für diese Beschäftigtengruppe wird mit 18,47 Euro angegeben. Ein Plus von 40 Prozent.
➔ Und für die Beschäftigtengruppe C (Pflege- und Betreuungskräfte mit mindestens dreijährige Ausbildung) wird der Mindestlohn ab April 2022 auf 15,40 Euro ansteigen, das „regional übliche *) Entgeltniveau“ für diese Beschäftigtengruppe beläuft sich hingegen auf 20,18 Euro pro Stunde. Das macht einen Unterschied von 31 Prozent zum Mindestlohnniveau.
(die Zuschläge nach der amtlichen regionalen Lohntabelle betragen 18,41 % für Nachtarbeit, 25,3 % für Sonntagsarbeit und 68,26 % für Feiertagsarbeit)

Das Stundenentgelt der AVR Caritas, Anhang C zu Anlage 32, wird bei Schiering für die Beschäftigtengruppe A (P4) ab 01.04.2022 mit 14,78 Euro - für die Beschäftigtengruppe C (P7) mit 18,88 Euro angegeben. Das läge unter dem regional üblichen Entgeltniveau. So einfach wollen wir es uns und unseren Lesern aber nicht machen. Schließlich gibt es auch Zuschläge für besondere Arbeitszeiten - und bei längerem Verbleib im Beruf die sogenannten "Entwicklungsstufen". 

Wir bleiben - der Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit wegen - in unserem gestern wieder gegebenen Berechnungsmodus und nehmen das Bistum Trier (Region Mitte) als Referenz - durchschnittlich 156 Arbeitsstunden **) monatlich: Die Tabellenwerte entnehmen wir den "mittleren Werten" bei Schiering, Anhang B zur Anlage 32 (Werte ab 01.04.2022):
Ungelerne Pflegehelfer (Engeltgruppe P 4):
Grundentgelt Stufe 1: 2.407,72 € entsprechend 15,43 Euro je Stunde zuzüglich 120,00 Euro mtl. Pflegezulage = 0,77 €/Std.;
Entwicklungsstufe 6: 2.603,89 € entsprechend 16,69 Euro je Stunde zuzüglich 120,00 Euro mtl. Pflegezulage = 0,77 €/Std.;
Zuschlag 15 % für Nachtarbeit, 25 v.H. für Sonntagsarbeit und 35 Prozent für Feiertagsarbeit (§ 6 Anl. 32 AVR Caritas)

Fachkräfte mit dreijähriger Ausbildung (Engeltgruppe P 7):
Bistum Trier (Region Mitte) - durchschnittlich 156 Arbeitsstunden **) monatlich:
Grundentgelt Stufe 2: 2.932,41 € entsprechend 18,80 Euro je Stunde zuzüglich 120,00 Euro mtl. Pflegezulage = 0,77 €/Std.;
Entwicklungsstufe 6: 3.654,17 € entsprechend 23,42 Euro je Stunde zuzüglich 120,00 Euro mtl. Pflegezulage = 0,77 €/Std.;
Zuschlag 15 % für Nachtarbeit, 25 v.H. für Sonntagsarbeit und 35 Prozent für Feiertagsarbeit (§ 6 Anl. 32 AVR Caritas)

Ergebnis::
Die "mittleren Werte" der AVR-Caritas-Tabelle liegen für Rheinland-Pfalz sowohl bei den ungelernten Pflegehilfskräften (Beschäftigtengruppe A - Entgeltgruppe P 4) wie auch bei den Fachkräften mit dreijähriger Ausbildung (Beschäftigtengruppe C - Entgeltgruppe P 7) anfänglich noch unter dem "regional üblichen Entgeltniveau". Diese Erkenntnis wird durch die deutlich höheren "regional üblichen" Zuschläge noch verstärkt.
Erst mit der Absolvierung von "Entwicklungsstufen" wird das "regional übliche Entgeltniveau" erreicht bzw. sogar überschritten, wobei die prozentuale Höhe der Zeitzuschläge noch nicht berücksichtigt ist.

Das Ergebnis der Durchschnittslöhne kann auch darauf zurück zu führen sein, dass das von den Pflegekassen ermittelte "regional übliche Entgelt" schon einen Durchschnitt darstellt. 
So würde bei der Caritas das durchschnittliche Entgelt in der Entgeltgruppe P 4 mathematische das Mittel zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Entgelt (in unserem Beispiel zwischen 15,43 Euro und 16,69 Euro also 16,06 Euro) ergeben. Aber auch diese überschlägige "Durchschnittsermittlung" ist noch für Fehler anfällig. Denn diese rein mathematische Durchschnittsberechnung erfasst nicht, wie viele Personen in den jeweiligen Entwicklungsstufen tatsächlich tätig sind. Viele "Anfänger" in Stufe 1 und wenige erfahrene Bestandsmitarbeiter führen tatsächlich zu einem niedrigeren Durchschnittslohn - und umgekehrt. 

Insofern bleibt es dabei: 
wir machen einen groben Orientierungsvergleich - für unsere Schlussfolgerung genügt dieser grobe Vergleich aber allemal.


(wird fortgesetzt)



*)
Üblicherweise meint, dass es auch Abweichungen gibt, die sowohl in die eine wie auch in die andere Richtung gehen können. 

**)
Die 4 Wochen/Monat stimmen nur bei einem Monat mit 28 Tagen. Tatsächlich sind die meisten Monate 30 oder 31 Tage lang, was dann auch mehr Wochenarbeitstage ergibt, weil der Monat eigentlich 4,348 Wochen hat und sich daher eigentlich 169 Stunden ergeben.
Mit unserer Berechnung runden wir zugunsten der Caritas.

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