Sonntag, 21. Mai 2023

Sonntagsnotizen zum Subsidiaritätsgrundsatz - ist die jetzige Finanzierung der Sozialbranche wie etwa mit Fallpauschalen verfassungswidrig?

Wir haben schon vor Jahren auf den Subsidiaritätsgrundsatz als elementaren Grundsatz der deutschen Verfassung hingewiesen. Dabei haben wir unter Bezug auf entsprechende Fundstellen unter anderem den Rechtswissenschaftler Joseph Listl zitiert:
Die grundsätzlich beste und letztlich allein befriedigende Lösung für dieses Abgrenzungsprobleme (Anm.: zwischen dem Staat, der nach dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen - und den religiösen Wohnfahrtsverbänden, die caritative Tätigkeit als Bestandteil ihres religiösen Auftrags sehen) bildet der aus dem Wesen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats abgeleitete Subsidiaritätsgedanke, der, wie E.Friesenhahn hervorhebt, einen >Grundsatz des objektiven Verfassungsrechts< darstellt, kraft dessen der Staat Einrichtungen finanziell zu fördern hat, die ihn unter Einsatz eigener Mittel von Aufgaben entlasten, die er andernfalls allein erfüllen und finanzieren müßte, und zwar bis zu dem Grad, daß die Träger der freien Wohlfahrtseinrichtungen den Standard erreichen können, den der Staat nach den jeweiligen Umständen für notwendig erachtet und erforderlichenfalls auch bei den von ihm selbst getragenen Einrichtungen verwirklicht.

Der Subsidiaritätsgrundsatz hat danach drei Auswirkungsbereiche:
  1. Der Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) soll sich bei erzieherischen und sozialen Leistungen freigemeinnütziger Träger bedienen. Das ist vielfach auch anderen Grundsätzen wie dem "Erziehungsprimat der Eltern" (vgl. Art. 6 GG) geschuldet. Wer keine oder eine bestimmte religiöse Erziehung seiner Kinder will, muss auch eine entsprechende Kindertagesstätte (KiTA) für diesen Zweck zur Verfügung haben.
  2. Die Leistungen dieser Träger muss der Staat auch finanzieren, und zwar bis zu dem Maße, den der Staat bei eigenen Einrichtungen auch zugrunde legen würde. Daraus folgt dann aber auch ein Drittes:
  3. Die Zuschüsse des Staates sind dazu bestimmt, dass auch der Standard des Staates erreicht wird, den der Staat in seinen Einrichtungen zugrunde legt. Das gilt für die Qualität der Leistungen, aber auch für die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Lage der Beschäftigten - denn Arbeitsverdichtung und schlechte Arbeitsbedingungen verringern zwar die Kosten, tragen aber gleichzeitig auch zu einer massiven Verschlechterung der Qualität von Leistungen entsprechender Einrichtungen bei: 
    • rechtliche Lage - das sind etwa Mitbestimmungsrechte, wie sie jetzt wieder bayerische MAVen eingefordert haben, wie schon in der Sozialenzyklika "Mater et magistra" festgelegt ist,
    • soziale Lage - das sind diskriminierungsfreie Arbeitsverhältnisse und Lohnnebenleistungen wie Arbeitszeitbestimmungen, Urlaubsansprüche oder auskömmliche Betriebsrenten,
    • wirtschaftliche Lage - das ist insbesondere ein tarifvertraglich zugesicherter Lohn der mit allen seinen Nebenleistungen mindestens dem Niveau des TVöD entspricht, und keine Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die jederzeit eine einzelvertragliche Abweichung zu Lasten der Beschäftigten ermöglichen.  
Das gilt auch für erzieherische Einrichtungen und Bildungsstätten wie Kindertagesstätten oder Schulen, mit denen religiöse Träger einen grundlegenden Rechtsanspruch gegenüber dem Staat erfüllen.

zu 2.:
Tatsächlich wird schon der zweite Auswirkungsbereich aus dem Subsidiaritätsgrundsatz nicht erfüllt. Der Staat fördert nicht mehr, sondern kauft seine Leistung nach Kostenwettbewerb beim "Billigstbieter" ein und legt dessen Preisniveau der staatlichen Refinanzierung zugrunde (z.B. bei Fallpauschalen). Damit bestimmen die "Billigstbieter" mit ihren Methoden die Qualität der Branche. Das Ergebnis ist bekannt:
(vgl. Anstieg beim Krankenstand in den Pflegeberufen um mehr als 44 Prozent in elf Jahren)

zu 3.:
Dass der Subsidiaritätsgrundsatz damit eklatant verletzt ist kann man dem Staat nun aber nicht unbedingt zum Vorwurf machen. Denn es waren - unter Vorreiterrolle der Diakonie - insbesondere auch die kirchlichen Wohlfahrtsverbände, die weder die rechtliche noch die soziale oder die wirtschaftliche Lage der Beschäftigten nach den Ansprüchen staatlicher Einrichtungen sicher gestellt haben. 

Mit anderen Worten: wer sich selbst nicht an die 3. Grundintention des verfassungsrechtlich verankerten Subsidiaritätsprinzips hält, der kann die Einhaltung der 2. Grundintention auch nicht selbst einfordern. 

Schlussfolgerung
Es gibt nur einen Weg, wieder auf die Grundlagen der gemeinsam getragenen Verantwortung zurück zu finden. Dazu müssen die kirchlichen Wohlfahrtsverbände aber endlich die für Arbeitgeber so verlockend klingende "Gewerkschaftsfreiheit" verlassen.

Damit die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Lage der Beschäftigten gesichert ist, haben Gewerkschaften schon vor Jahren eine gesetzliche Regelung (Tariftreuegesetz) gefordert. Diese Forderung ist immer noch aktuell - und es bestehen derzeit die besten Chancen, die Forderung auch entsprechend zu erfüllen. Wir dürfen dazu auch auf unseren morgigen Beitrag verweisen. 

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