Als ich im Oktober 1982 meinen Dienst im Erzbischöflichen Ordinariat München aufnahm, herrschte gerade Sedisvakanz. Kardinal Ratzinger war Monate vorher nach Rom berufen worden. Ich hatte also nicht mehr die Gelegenheit, den Münchner Erzbischof plötzlich selbst am Telefon zu haben - was während seiner Tätigkeit durchaus passiert sein soll, da sich Ratzinger noch persönlich um Informationen zu einzelnen Vorgängen bemühte. Die folgenden knapp 40 Jahre hatte ich verschiedene Aufgaben im Ordinariat zu erfüllen, während Ratzinger - der spätere Papst Benedikt XVI. - seine Arbeiten überwiegend im Rom verrichtete. Wir hatten also nie die Möglichkeit, uns persönlich zu sprechen. Um nicht auf "Hörensagen" zurück zu greifen, muss ich den Verstorbenen also anhand der dokumentierten eigenen Aussaggen würdigen.
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Heute wird also der Leichnam von Benedikt XVI. beerdigt. Und bereits kurz nach seinem Tod begann der Streit um Benedikts Erbe, wie der SPIEGEL bereits am 1. Januar berichtete:
Rechte Ratzinger-Fans in der Weltkirche würden ihr Idol nur zu gern noch einmal gegen den aus ihrer Sicht viel zu linken Franziskus in Stellung bringen.
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Ich bin nach Deutschland, nach Bayern, gekommen, um meinen Landsleuten die immerwährenden Wahrheiten des Evangeliums als gegenwärtige Wahrheit und Kraft nahezubringen und die Gläubigen zu stärken... Von diesem Bewußtsein angetrieben, hat die Kirche unter der Führung des Geistes die Antworten auf die Herausforderungen, die im Laufe der Geschichte auftraten, immer neu im Wort Gottes gefunden. . Das hat sie ganz speziell auch für die Probleme zu tun versucht, die sich vor allem von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an im Zusammenhang mit der sogenannten „Arbeiterfrage“ stellten. Ich unterstreiche das bei diesem Anlaß, weil gerade heute, am 14. September, der 25. Jahrestag der Veröffentlichung der Enzyklika Laborem exercens ist, in der der große Papst Johannes Paul II. die Arbeit als eine „fundamentale Dimension menschlicher Existenz auf Erden“ bezeichnet (Nr. 4) und daran erinnert hat, daß „die erste Grundlage für den Wert der Arbeit der Mensch selbst ist“ (Nr.6). Sie ist darum „ein Gut für den Menschen“, merkte er an, „weil er durch die Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen Bedürfnissen anpaßt, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermaßen »mehr Mensch wird«“ (Nr. 9). Auf der Basis dieser Grundintuition gab der Papst in der Enzyklika einige Orientierungen, die bis heute aktuell sind. Auf diesen Text, der durchaus prophetischen Wert besitzt, möchte ich auch die Bürger meiner Heimat verweisen, weil ich sicher bin, daß seine praktische Anwendung auch für die heutige gesellschaftliche Situation in Deutschland von großem Nutzen sein wird.
... Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben.Die Hamburger ZEIT bezeichnet diese Freiburger Rede als "das Destillat seines Lebens und des katholischen Konflikts".
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Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen. Das heißt nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen. Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens vermitteln. „Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst” (Enzyklika Deus caritas est, 25). Allerdings haben sich auch die karitativen Werke der Kirche immer neu dem Anspruch einer angemessenen Entweltlichung zu stellen, sollen ihr nicht angesichts der zunehmenden Entkirchlichung ihre Wurzeln vertrocknen....
Es lohnt sich, sie noch einmal anzusehen (Youtube).
Dem Biografen (Anm.: Peter) Seewald, der »neuheidnische Zeiten« vor allem in Deutschland diagnostiziert, vertraute Ratzinger seine Kritik an der Kirche in seiner Heimat an: »In Deutschland haben wir diesen etablierten und hoch bezahlten Katholizismus, vielfach mit angestellten Katholiken, die dann der Kirche in einer Gewerkschaftsmentalität gegenübertreten. Kirche ist für sie nur der Arbeitgeber, gegen den man kritisch steht.« Und: »Mich betrübt diese Situation, dieser Überhang an Geld, das dann doch wieder zu wenig ist, und die Bitterkeit, die daraus erwächst, die Häme, die in deutschen Intellektuellenkreisen da ist.«Leider bleibt offen, was unter "Gewerkschaftsmentalität" zu verstehen ist. Ist es das reine Gegenüber von organisierten Arbeitnehmern zu Arbeitgebern, das in "Laborem exercens" beschrieben wird? Die Interessensgegensätze lassen sich auch in kirchlichen Einrichtungen nicht verleugnen. Und die Kirche hat gerade das Gewerkschaftsprinzip als beste Möglichkeit zur Bewältigung dieser Interessensgegensätze erklärt.
27. Man muß zugeben, daß die Vertreter der Kirche erst allmählich wahrgenommen haben, daß sich die Frage nach der gerechten Struktur der Gesellschaft in neuer Weise stellte. Es gab Wegbereiter; einer von ihnen war zum Beispiel Bischof Ketteler von Mainz († 1877). Als Antwort auf die konkreten Nöte entstanden Zirkel, Vereinigungen, Verbände, Föderationen und vor allem neue Ordensgemeinschaften, die im 19. Jahrhundert den Kampf gegen Armut, Krankheit und Bildungsnotstand aufnahmen. Das päpstliche Lehramt trat im Jahr 1891 mit der von Leo XIII. veröffentlichen Enzyklika Rerum novarum auf den Plan. Ihr folgte 1931 die von Pius XI. vorgelegte Enzyklika Quadragesimo anno. Der selige Papst Johannes XXIII. veröffentlichte 1961 seine Enzyklika Mater et Magistra, während Paul VI. in der Enzyklika Populorum progressio (1967) und in dem Apostolischen Schreiben Octogesima adveniens (1971) nachdrücklich auf die soziale Problematik einging, wie sie sich nun besonders in Lateinamerika verschärft hatte. Mein großer Vorgänger Johannes Paul II. hat uns eine Trilogie von Sozial-Enzykliken hinterlassen: Laborem exercens (1981), Sollicitudo rei socialis (1987) sowie schließlich Centesimus annus (1991). So ist stetig in der Auseinandersetzung mit den je neuen Situationen und Problemen eine Katholische Soziallehre gewachsen, die in dem vom ,,Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden’’ 2004 vorgelegten Kompendium der Soziallehre der Kirche zusammenhängend dargestellt ist.
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In der schwierigen Situation, in der wir heute gerade auch durch die Globalisierung der Wirtschaft stehen, ist die Soziallehre der Kirche zu einer grundlegenden Wegweisung geworden, die weit über die Kirche hinaus Orientierungen bietet. Angesichts der fortschreitenden Entwicklung muß an diesen Orientierungen im Dialog mit all denen, die um den Menschen und seine Welt ernstlich Sorge tragen, gemeinsam gerungen werden.
Wer Fürsorge den Marktinteressen unterwirft, schadet nicht nur den Beschäftigten und Betreuten, den Alten, Kranken und Schwachen, sondern letztendlich auch der Kirche selbst.
Die Kommerzialisierung der Pflege führt zur Entkirchlichung - und gewerkschaftliche Betätigung ist die zwangsläufige Folge.
AntwortenLöschenWie soll Ratzinger gesagt haben? (Zitat) "Ich für meinen Teil möchte im Leben nichts mehr veröffentlichen. Die Wut der Kreise gegen mich in Deutschland ist so stark, dass das Erscheinen jedes meiner Worte sofort ein mörderisches Geschrei ihrerseits hervorruft. Das will ich mir und der Christenheit ersparen" (Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/43165-benedikt-xvi-mahlfeier-mit-protestanten-theologisch-unmoeglich)
AntwortenLöschenKorrektur zur Quelle: bei katholisch.de wird der Herausgeber zu dem posthum erschienenen Buch "Was ist das Christentum?" mit dieser Aussage Ratzingers zitiert - der Linktitel könnte zu Irritationen führen.
LöschenJedenfalls kann - so Radio Vatikan aktuell - künftig niemand mehr behaupten, Benedikt habe von der Situation in Deutschland "keine Ahnung gehabt". (Zitat)"Auffallend ist das starke Interesse, das der emeritierte Papst bis kurz vor seinem Tod an theologischen, kirchlichen und intellektuellen Debatten in seiner deutschen Heimat hatte." (Zitat Ende), entnommen aus https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2023-01/papst-benedikt-xvi-postum-buch-aufsaetze-religion-christen-islam.html
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