Dienstag, 12. September 2023

Alarmmeldung zur Altersarmut - Ursachen und Beseitigung

Wenn es nach der kirchlichen Lehre geht, dann darf es keine Altersarmut geben. Denn der "gerechte Lohn" soll ein lebenslanges auskömmliches Einkommen für die gesamte Familie sichern.

Wie sind die Fakten?
Tatsächlich sieht es sogar im "reichen Deutschland" anders aus. Prof. Dr. Stefan Sell twitterte
„Sozialer Sprengsatz“: Über neun Millionen Vollzeitbeschäftigte erhalten künftig unter 1500 Euro Rente:
Er bezieht sich dabei auf eine Veröffentlichung des rnd (Redaktionsnetzwerk Deutschland), das sich auf eine Erhebung des Arbeitsministeriums bezieht:
...
Fast die Hälfte aller heute sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten werden sich im Alter auf eine monatliche Rente von unter 1500 Euro einstellen müssen. Das geht aus Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums hervor. Im Osten sei die Situation noch dramatischer, kritisiert die Linke. Dort drohe der Mehrheit eine Rente unter 1300 Euro. ....
9,3 Millionen Beschäftigte erwartet Rente von weniger als 1500 Euro
Bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden über 45 Jahre hinweg winken Millionen Deutschen im Schnitt nur unter 1500 Euro im Rentenalter – das zeigt eine aktuelle Erhebung des Bundesarbeitsministeriums. ...
Wie das „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ unter Berufung auf Erhebungen des Bundesarbeitsministeriums berichtet, müssen die Betreffenden, um auf diese Altersbezüge zu kommen, aktuell bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden 45 Jahre lang gearbeitet und rechnerisch einen Stundenlohn von 20,78 Euro erreicht haben. Das entspreche einem Bruttomonatslohn von 3602 Euro.
Dem Bericht zufolge ist für eine künftige monatliche Rente in Höhe von 1200 Euro derzeit rechnerisch ein Stundenlohn von 16,62 Euro bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden über 45 Jahre nötig. Zwar soll der Mindestlohn zum 1. Januar 2024 von 12 auf 12,41 Euro steigen, aber seine Empfängerinnen und Empfänger sind auch danach noch entfernt von den 16,62 Euro, die nötig sind, um eine Rente von 1200 Euro zu erreichen.
(vor einem Jahr hieß es dazu, die Gefährdungsquote von Altersarmut sei sprunghaft auf 17,4 Prozent angestiegen).

Ursachen für diese Entwicklung:
Die Berichte beschreiben schon die Ursachen - es sind die zu geringen Entgelte gerade in den "niedriger vergüteten Tätigkeiten", die insbesondere von Frauen ausgeübt werden (ergänzend: Sorgearbeit). Als "Caritas-Blog" können wir nicht auf die Lohnentwicklung der Industrie eingehen. Wir beschränken uns auf die kirchlichen Wohlfahrtsverbände, um dies darzustellen:

Für die AVR Caritas sind die unterschiedlichen Vergütungstabellen von Kollegen W. Schiering veröffentlicht worden. Wir ersparen uns daher die entsprechende Wiedergabe, zumal die Regelungen recht komplex sind (Tabellen nach Anlagen 31, 33 ... getrennt zwischen verschiedenen Regionen).
Ergänzend bietet die Zusatzversorgung (Betriebsrente), die überwiegend durch die Arbeitgeber zu finanzieren ist, einen bestimmten Ausgleich. Es ist daher angemessen, bei den Tabellenwerten auch die arbeitgeberseitigen Beiträge oder Umlagen zur Zusatzversorgung, Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie entsprechende Zulagen zu addieren. Wir können aber feststellen, dass auch hier in den unteren Lohn- oder Vergütungsgruppen der genannte Bruttomonatslohn von 3.602,00 Euro nicht erreicht wird.

Bei der AVR der Diakonie Bayern - die wir als "bayrischer Blog" gegenüber der Vielzahl von diakonischen AVR-Regelungen in Deutschland bei Vergleichen bevorzugen - ist es einfacher. Es gibt nur eine Tabelle. Dort sind seit 01.01.2023 die folgenden Lohntabellen in Kraft:

Entgeltgruppe

Stufe 1

Stufe 2

Stufe 3

Stufe 4

Stufe 5

Sonderstufe

Dauer 12 Monate

Dauer 24 Monate

Dauer 60 Monate

Dauer 84 Monate

nach 180 Monaten

E 1

2.140,43 €1)

2.188,06 €

2.235,70 €

12,31 €

12,58 €

12,85 €

E 2

2.181,47 €

2.283,56 €

2.334,61 €

2.385,65 €

12,54 €

13,13 €

13,42 €

13,72 €

E 3

2.227,89 €

2.337,79 €

2.447,69 €

2.502,63 €

2.557,60 €

12,81 €

13,44 €

14,07 €

14,39 €

14,71 €

E 4

2.398,25 €

2.517,14 €

2.636,01 €

2.695,45 €

2.754,89 €

13,79 €

14,47 €

15,16 €

15,50 €

15,84 €

2.401,00 €2)

13,81 €

E 5

2.594,02 €

2.723,20 €

2.852,37 €

2.916,94 €

2.981,54 €

14,92 €

15,66 €

16,40 €

16,77 €

17,14 €

E 6

2.748,74 €

2.819,24 €

2.960,27 €

3.101,30 €

3.171,82 €

3.242,34 €

15,80 €

16,21 €

17,02 €

17,83 €

18,24 €

18,64 €

E 7

3.001,50 €

3.078,84 €

3.233,54€

3.388,22 €

3.465,58 €

3.542,92 €

17,26 €

17,70 €

18,59 €

19,48 €

19,93 €

20,37 €

E 8

3.293,44 €

3.378,68 €

3.549,15 €

3.719,63 €

3.804,86 €

3.890,10 €

18,94 €

19,43 €

20,41 €

21,39 €

21,88 €

22,37 €

E 9

3.631,41 €

3.725,78 €

3.914,52 €

4.103,26€

4.197,64 €

4.292,00 €

20,88 €

21,42 €

22,51 €

23,59 €

24,14 €

24,68 €

Quelle: Rehm-Verlag
Fakt also: erst in Entgeltgruppe 8 Stufe 4 wird der angesprochene nötige Mindestlohn erreicht. Die Beschäftigten in Entgeltgruppe 7 und darunter erreichen die nötige Vergütung in keiner (!) Stufe ihrer Laufbahn.

Möglichkeiten zur Beseitigung:
Vergütungsverhandlungen - das ist doch Sache der Gewerkschaften, oder nicht? Ja - das ist es, allerdings verweigern die kirchlichen Wohlfahrtsverbände (bei der Caritas entgegen der katholischen Soziallehre) den Abschluss von Tarifverträgen. Und das wirkt sich auf die "Refinanzierung" der sozialen Dienste aus. Denn dort werden grundsätzlich nicht die tarifvertraglichen Löhne sondern die Kosten der "Billigsbieter" zugrunde gelegt, also derjenigen, die durch Arbeitsverdichtung oder/und niedrige Löhne die "Marktpreise" für soziale Leistungen bestimmen.
Und auch die Tarifverträge im öffentlichen Dienst haben einen Nachteil: sie müssten - um als Refinanzierungsgrundlage zu gelten - jeweils "allgemein verbindlich" erklärt werden. Das Tarifvertragsgesetz erlaubt diese Erklärung aber nur, wenn "der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat" (Art. 5 TVG). Das ist nur der Fall, wenn - so die überwiegende Meinung - zumindest etwa 50 % der Beschäftigten einer Branche unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallen. Dazu würde die Caritas als Tarifvertragspartner benötigt - und sei es nur über einen "Anwendungstarifvertrag" zum einschlägigen TVöD.
Die Caritas ist mit angegeben über 690.000 Beschäftigten in rund 25.000 Einrichtungen der größte privatrechtliche Arbeitgeber Deutschlands. Die Angestellten werden dabei von ca. 500.000 Ehrenamtlichen Mitarbeitern unterstützt. Gegründet im Jahr 1897 handelt es sich bei dem Deutschen Caritasverband um den Wohlfahrtsverband der römisch-katholischen Kirche in Deutschland, der als Spitzenverband von mehr als 900 Organisationseinheiten – der überwiegende Teil davon als selbstständig eingetragene Vereine – agiert. Die Caritas müsste wohl durch einen "Erzwingungsstreik" zu einem entsprechenden Abschluss genötigt werden. Und eine Gewerkschaft ist nur so stark, wie es die Summe ihrer Mitglieder ist.
"Wer versucht, eine vorübergehende Schwäche des Tarifpartners bis zum Äußersten auszunutzen, mag einem kurzfristigen Kalkül entsprechend schlau handeln, aber er schadet dem Gemeinwohl und mittel- bis langfristig auch sich selbst. Man hört durchaus Klagen von Arbeitnehmern verschiedener Branchen, dass in einzelnen Tarifbezirken Arbeitgeber nicht bereit wären, sich mit den Gewerkschaften an einen Tisch zu setzen, um Tarifverträge neu zu verhandeln, die zehn Jahre oder älter sind. Wer sich so verhält, darf sich dann nicht beklagen, wenn ihm die Politik irgendwann einen gesetzlichen Mindestlohn vorschreibt."
(Reinhard Marx "Das Kaptial", Pattloch-Verlag, S. 123).

Nun, soweit sind wir inzwischen. "Die Politik" setzt seit Jahren immer höhere Mindestlöhne fest. Diese reichen derzeit nicht aus. Deshalb ist schon aus Gründen der Finanzierung von Sozialleistungen mit weiteren Anhebungen zu rechnen. Denn wer nicht genug Rente hat, der muss Sozialleistungen erhalten - was die Arbeitgeber "zu wenig" zahlen, wird also durch die öffentliche Hand von allen über Steuern finanziert. Da die öffentlichen Haushalte an die Grenzen ihrer Finanzierungsmöglichkeiten geraten, wird der Druck zur Erhöhung des Mindestlohnes immer höher. Warum sollte auch die Gesellschaft über ausgleichende Sozialleistungen das Lohndumping für die Reinigung von Büros oder Fenstern in den Unternehmen finanzieren?
"Die Politik" wird darüber hinaus auch in anderer Weise aktiv. So soll über eine "Tariftreueklausel" gewährleistet werden, dass öffentliche Aufträge und damit öffentliche Mittel nur an diejenigen vergeben werden, die ihren MitarbeiterInnen angemessene, das heißt auskömmliche Löhne und Gehälter zahlen.
Und auch die "Sonderrechte der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände" werden immer mehr beschnitten. Gesetzgeber und Gerichte hinterfragen zunehmend, ob die beanspruchten Sonderrechte denn wirklich "notwendig" und aus dem "Ethos der jeweiligen Kirche" begründet sind. Gerade vor dem Hintergrund der päpstlichen Sozialenzykliken und des universellen Kirchenrechts wird es dann für die deutsche Kirche schwer, eine solche Begründung zu behaupten.

Letztendlich zeichnet sich schon seit Jahren ab, dass es auch für die katholische Kirche und ihren Wohlfahrtsverband besser wäre, zu einer umfassenden Kooperation mit den Gewerkschaften zu kommen. Dafür sprechen bei näherer Betrachtung Argumente aus sämtlichen relevanten Blickwinkeln - ob sozialethisch, ob die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Lehre und damit der Kirche selbst betreffend - oder auch nur die Erlangung der "tarifvertraglichen Friedenspflicht", wo doch die "Angst vor einem Streik" ausweislich der Grundordnung der wesentliche Gesichtspunkt für die Entscheidung zum "Dritten Weg" gewesen sein soll.
Aber das haben wir ja auch oft genug dargelegt: "Jeder Arbeitgeber behauptet gerne, dass in seinem Betrieb nicht gestreikt werden dürfte. Und auch wenn ein Pfarrer oder Bischof das behauptet, wird daraus noch lange keine Glaubenslehre."

Deshalb:
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